Das von Paul Bonatz entworfene Gebäude des Stuttgarter Personenbahnhofs ist eines der Wahrzeichen der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Der Personenbahnhof war ein Teilprojekt einer umfassenden Neugestaltung der Stuttgarter Bahnanlagen im Zeitraum zwischen 1910 und 1930.

Der heutige Stuttgarter Hauptbahnhof ist die dritte Anlage eines zentralen Verkehrsknotens für den Eisenbahnverkehr in der früheren Residenz- und heutigen Landeshauptstadt Stuttgart. Der erste Stuttgarter Zentralbahnhof wurde 1846 an der heutigen Bolzstraße eröffnet. Mitte der 1860er Jahre musste er durch eine neue, erheblich ausgedehnte Anlage ersetzt werden, blieb aber am selben Standort.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts war klar, dass der Stuttgarter Hauptbahnhof in der bisherigen Form nicht mehr den Ansprüchen hinsichtlich der Personenfrequenz und der Zugzahlen genügen konnte. Einerseits reichte die Zahl der Gleise nicht aus, andererseits kreuzten sich alle Fahrwege höhengleich nahe der beiden Personenhallen, so dass die Leistungsfähigkeit der Gesamtanlage auf etwa 300 Züge täglich begrenzt war. Dies war für die weitere Entwicklung des Verkehrs hinderlich.

1907 fiel die Entscheidung, den alten Standort an der Bolzstraße aufzugeben und einen völlig neuen Personenbahnhof an der damaligen Schillerstraße, dem heutigen Arnulf-Klett-Platz, zu errichten. Der Neubau des Personenbahnhofs war im Gesamtvorhaben der Umgestaltung der Stuttgarter Bahnanlagen ein Teilprojekt. Weitere Elemente dieser Neugestaltung waren der viergleisige Streckenausbau nach Bad Cannstatt und Ludwigsburg, der Bau eines neuen Güterbahnhofs, Abstellbahnhofs, Postbahnhofs und einer neuen Lokschuppenanlage mit allen erforderlichen Behandlungsanlagen und Werkstätten. Die Verwirklichung aller dieser Vorhaben dauerte rund zwanzig Jahre und nahm den Zeitraum von etwa 1910 bis 1930 in Anspruch.

Zwischen 1907 und 1910 erarbeitete die Generaldirektion der Staatsbahn einen Vorentwurf für das Empfangsgebäude des neuen Hauptbahnhofs. Grundsatz war dabei, dass das Empfangsgebäude ebenso wie die neuen Gleisanlagen das Verkehrsaufkommen des Jahres 1907 und einen hundertprozentigen Zuwachs bewältigen können sollte. Ebenso wurde entschieden, dass der neue Personenbahnhof in mehreren Etappen in Betrieb gehen sollte, wobei in der ersten Phase noch der alte Zentralbahnhof an der Schlossstraße erhalten bleiben musste.

Aus einem 1910 seitens der Staatsbahn ausgeschriebenen Wettbewerb zur Erlangung von Entwürfen für das neue Empfangsgebäude gingen die Stuttgarter Architekten Paul Bonatz und Friedrich Eugen Scholer als Sieger hervor. Zwischen 1911 und 1914 entwickelten Bonatz und Scholer die Architektur weiter. In diesem Prozess wurde die Linienführung des Gebäudes schlichter, strenger und kubischer.

Im Dezember 1914 konnte der Grundstein des Empfangsgebäudes an der vorderen Ecke des Bahnhofturms gesetzt werden. In den Jahren 1915 und 1916 entstand der Rohbau des ersten Bauabschnitts.

Das für die Reisenden bedeutsamste Element des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs war der sechzehngleisige Kopfbahnhof, mit dem an die Schillerstraße grenzenden Empfangsgebäude. Auf der Seite der Anlagen wird das lang gestreckte Gebäude durch den Bahnhofturm und die charakteristische, große Schalterhalle dominiert. Diese Schalterhalle stellt den Hauptzugang zum Gebäude dar. Von ihr war der Weg zu den Gleisen 9 bis 16 vorgezeichnet, die in erster Linie dem Fernverkehr dienten. Auf der entgegengesetzten Seite des Personenbahnhofs, beim Nordausgang, befindet sich die Kleine Schalterhalle. Ihr waren hauptsächlich die Gleise 1 bis 6 zugeordnet, die dem Vorortverkehr der Richtungen von und nach Bad Cannstatt sowie Feuerbach dienten. Zwischen diesen beiden Bereichen befanden sich die Gleise 7 und 8, die in erster Linie für die Züge der Gäubahn, von und nach Böblingen, bestimmt waren.

Nordwestlich des Personenbahnhofs befand sich der Stückgutbahnhof. Gegen die heutige Heilbronner Straße endeten zahlreiche Freiladegleise für Wagenladungen. Auch das Zollamt befand sich in diesem Bereich. Auf die Anlagen des Güterbahnhofs konnte man in den 1990er Jahren verzichten. Das Gelände wurde einer neuen Nutzung zugeführt.

Die Zweckbestimmung der Gleise innerhalb des Personenbahnhofs änderte sich nach der Einführung der Stuttgarter S-Bahn im Jahr 1978 erheblich, da die Vorortzüge durch S-Bahnen ersetzt wurden, die nicht mehr in den Kopfbahnhof einfuhren.

Vom Personenbahnhof ausgehend baute die Staatsbahn unter Vermeidung höhengleicher Gleiskreuzungen jeweils viergleisige Linien nach Feuerbach und nach Bad Cannstatt. Zwischen diesen beiden Streckenästen entstanden zum Rosensteinpark hin die Lokomotivschuppenanlage, der Abstellbahnhof und der Postbahnhof.

Am 23. Oktober 1922 ging der erste Teilabschnitt des neuen Personenbahnhofs in Betrieb. Er umfasste den Bahnhofturm, die Große Schalterhalle, den Seitenflügel auf der Seite des Turmes und die Gleise 9 bis 16. Nordwestlich des neuen Personenbahnhofs führten zunächst noch Gleise zum alten Zentralbahnhof an der Bolzstraße.

In einem weiteren Bauabschnitt wurden am 26. Mai 1925 die Gleise 5 bis 8 in Betrieb genommen. Der viergleisige Ausbau der Strecke in Richtung Feuerbach konnte am 16. November 1925 abgeschlossen werden. Am 19. Dezember 1927 gingen auch die Gleise 1 bis 4 des Personenbahnhofs und damit der Bauabschnitt für die Vorortzüge in Betrieb. Der Nordausgang folgte 1928, das neue Zollamtsgebäude im Güterbahnhof im Jahr 1929. Damit war das Jahrhundertprojekt des Neu- und Umbaus des Stuttgarter Hauptbahnhofs nach 21 Jahren abgeschlossen.

Der neue Hauptbahnhof war aus der Notwendigkeit heraus entstanden, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerst dynamischen Verkehrsentwicklung Stuttgarts gerecht zu werden. Diese Entwicklung setzte sich aber um 1930, als der neue Hauptbahnhof in vollem Umfang in Betrieb war, nicht fort.

Die eigentlich große Zeit des neuen und dritten Stuttgarter Hauptbahnhofs begann in den 1950er Jahren. Der damalige Wirtschaftsaufschwung wurde von einem erheblichen Verkehrszuwachs begleitet. Zu Beginn der 1930er Jahre hatte die Deutsche Reichsbahn nach längerer Planung im Raum Stuttgart den elektrischen Vorortbetrieb eingeführt. Auch die Hauptbahn in Richtung Esslingen konnte seitdem mit elektrischen Triebfahrzeugen bedient werden. Die Elektrifizierung schritt in den 1950er und 1960er Jahren voran und konnte Mitte der 1960er Jahre weitgehend abgeschlossen werden.

In den 1960er Jahren war der Stuttgarter Hauptbahnhof extrem belastet. Die Folge war, dass die erstmals schon Ende der 1940er Jahre angestellten Überlegungen zur Einführung eines S-Bahn-Systems nun in ein konkretes Stadium eintraten. Nach umfangreichen Bauarbeiten auch im unmittelbaren Bereich des Personenbahnhofs, der von der neuen S-Bahn-Strecke unterfahren wurde, konnte 1978 ein Teil des Vorortverkehrs auf S-Bahnen umgestellt werden, so dass der oberirdische Hauptbahnhof seitdem durch einen neuen, zweigleisigen Tiefbahnhof deutlich entlastet wird. Das S-Bahn-Netz wurde seitdem in mehreren Stufen erweitert.

Im Jahr 2012 begannen die Arbeiten, den Kopfbahnhof durch eine tief gelegte Durchgangsstation zu ersetzen, wobei das zum Arnulf-Klett-Platz hin orientierte Hauptgebäude des Personenbahnhofs erhalten bleibt.

Text: Andreas Räntzsch
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Literaturhinweise:

Franz Bartl, Stuttgart Hauptbahnhof. Empfangsgebäude und Bahnsteigüberdachung im Kontext der Architektur- und Konstruktionsentwicklung (Schriftenreihe Baukonstruktion, hg. vom Institut für Baukonstruktion, Bd. 24), Stuttgart 1990.
Egon Hopfentitz, Chronik Stuttgarter Hauptbahnhof 1846 bis 1998, Stuttgart 1999.
Andreas Räntzsch, Die Einbeziehung Stuttgarts in das moderne Verkehrswesen durch den Bau der Eisenbahn. Entscheidungsprozesse, Standortpolitik, ökonomische Voraussetzungen, Funktionalität und Resultate der verkehrlichen Erschließung zwischen 1830 und 1930, Hamburg 2005.
Andreas Räntzsch , Stuttgart und seine Eisenbahnen. Die Entwicklung des Eisenbahnwesens im Raum Stuttgart, Heidenheim 1987.
Andreas Räntzsch, Stuttgart Hauptbahnhof. Monument der Verkehrstechnik – 90 Jahre von 1922 bis 2012, Göppingen 2012.

GND-Identifier: 4193721-1
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Räntzsch, Hauptbahnhof, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/f435a79d-02e1-4a17-9e8f-b2f8c1a88ff5/Hauptbahnhof.html