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Moritz Moses Horkheimer, Textilfabrikant in Stuttgart, besaß eine Kunstsammlung mit Werken schwäbischer Impressionisten. Durch seinen Sohn Max Horkheimer gelangten auch Werke der Avantgarde in die Villa Horkheimer.

Moritz Moses Horkheimer gründete 1885 eine Lumpenhandlung in Zuffenhausen, Christophstr. 3. 1898 eröffnete er zusammen mit seinem Bruder in der Schwieberdinger Straße 58 und 60 eine Sortieranstalt für Lumpen aus Wolle und Baumwolle, die in „Kunstbaumwollwerke Zuffenhausen AG“ umbenannt wurde und ca. 150 Arbeiter beschäftigte. Die Firma produzierte jährlich ca. 5.000 Tonnen Waren, die im In- und Ausland verkauft wurde. 1921 wurde die Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt.

1892 erwarb Horkheimer die württembergische Staatsangehörigkeit und erhielt 1916 vom König von Württemberg das Charlottenkreuz sowie das Ritterkreuz I. Klasse des Friedrichsordens. Am 5. Januar 1917 erhielt er die Gemeinde-Bürgerrechts-Urkunde der Stadt Stuttgart, richtete 1917 eine mit 15.000 M. dotierte wohltätige Stiftung in Zuffenhausen ein, erhielt den Titel eines Kommerzienrates und wurde 1918 Ehrenbürger der Stadt Zuffenhausen. Dort war auch sein Sohn Max Horkheimer (1895-1973) in der Schwieberdinger Straße 58 geboren worden. 1931 wurde Zuffenhausen nach Stuttgart eingemeindet; im selben Jahr wurde die Firma stillgelegt und die Liquidation eingeleitet, die sich bis 1938 hinzog.

Moritz Horkheimer war jüdischer Herkunft und verleugnete dies auch nicht: er gehörte dem konservativen Judentum an und war Mitglied in der 1899 gegründeten „Stuttgart-Loge“, die der jüdischen Freimaurerloge Bnai Brith angehörte.

Horkheimer ließ in Stuttgart von den Architekten Stahl und Bossert eine dreigeschossige Villa erbauen, in der er von 1912 bis 1935 mit seiner Ehefrau Babette (1869-1946) lebte.  Ein Fotoalbum, das sich im Nachlass des Sohnes Max Horkheimer im Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt befindet, zeigt die Inneneinrichtung, zu der neben dem Damen- und Herrenzimmer sowie dem Kinderzimmer und den Funktionsräumen auch ein Musikzimmer und ein sogenanntes „Bauernzimmer“ mit Spinnrad, Spinnrocken, Lüsterweibchen und Hirschgeweihen gehörten. Zu sehen sind auch Teile seiner umfangreichen Kunstsammlung, die seine Villa zierte; sie wurde in den 1930er Jahren unter dem Druck der Nationalsozialisten schrittweise aufgelöst. Die genauen Umstände sind bis heute nicht geklärt.

Im Fotoalbum hat der Sohn nach 1945 die abgebildeten Gemälde markiert und bezeichnet, um Wiedergutmachungsansprüche stellen zu können. Im Speisesaal der Villa Horkheimer befand sich z.B. ein großformatiges Gemälde von Christian Speyer (1855–1929), welches zwei Reiter in Rüstung zeigt, sowie ein Akt von Christian Landenberger (1862-1927). Nachweisbar sind auch Gemälde von Otto Reiniger (1863-1909), Josef Kerschensteiner (1864-1936), Hermann Pleuer (1863-1911), Robert von Haug (1857-1922) und Carlos Grethe (1864-1913), mit denen er teils persönlich bekannt war. Damit sammelte der Vater Horkheimer vor allem Gemälde von akademischen Malern, die zu dieser Zeit zu den etablierten und hochgeschätzten Künstlern in Stuttgart zählten.

Umso überraschender ist daher eine Pastellzeichnung im Schlafzimmer, die als eine sehr frühe Zeichnung von Pablo Picasso aus dem Jahr 1901 identifiziert werden konnte. Das unvollendete, skizzenhafte Pastell zeigt ein Kindermädchen mit einem Kleinkind auf dem Arm und zwei Knaben, die neben ihr stehen. Die Erwerbung erfolgte auf Wunsch des Sohnes Max.

Im Zimmer des Sohnes zog denn auch der neue Zeitgeist ein: Man sieht expressionistische Grafiken und ein gerahmtes Plakat der Berliner Galerie „Der Sturm“, welches der österreichische Künstler Oskar Kokoschka 1911 entworfen hatte. Max Horkheimer (1895-1973) hatte die Schule abgebrochen, um von 1914 bis 1919 als Juniorchef in der Firma seines Vaters zu arbeiten. Er erwarb bereits als Jugendlicher im Elternhaus Kunstwerke und überredete später seinen Vater, das Pastell von Picasso 1928 bei der Galerie Thannhauser in München zu erwerben. Zusammen mit seinem Freund Friedrich Pollock (1894-1970) erwarb er vor und nach dem Ersten Weltkrieg Werke von Paul Klee, Marc Chagall und Franz Marc. Sein Geschmack wandte sich dem Expressionismus zu, dessen Zentren sich in Berlin und München befanden.

Max Horkheimer holte 1919 das Abitur nach, wurde 1922 in Frankfurt promoviert und dort  1930 zum Direktor des „Instituts für Sozialforschung“ ernannt. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten war er nicht nur wegen seiner jüdischen Herkunft, sondern auch aus politischen Gründen stark gefährdet und emigrierte 1933 zusammen mit seinem Freund Pollock in die USA, wo beide ihre wissenschaftliche Arbeit zunächst an der Columbia University in New York fortsetzten. Von den USA aus versuchte Horkheimer in Zusammenarbeit mit den Auswandererbüros Marx und Adler in Stuttgart als Bürge für seine Eltern sowie für Verwandte aus Stuttgart einzutreten, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Darunter befanden sich z.B. Max und Helene Cahn, geborene Horkheimer, zuletzt wohnhaft in der Reinsburgstraße 107, die jedoch nicht gerettet werden konnten: Am 17.4.1943 wurden sie nach Theresienstadt deportiert, 1944 nach Ausschwitz gebracht und dort ermordet.

Seine Eltern waren beim Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 hochbetagt und blieben in Stuttgart; es gelang ihnen jedoch, einige Kunstwerke zu ihrem Sohn in die USA zu schicken. Max Horkheimer erhielt nachweislich 1936 Werke von Carl Spitzweg, Alfred Kubin und von Paula Modersohn-Becker.

1935 mussten die Eltern ihr Haus an die Ehefrau des Stuttgarter Fabrikanten Willy Lück verkaufen, die es drei Jahre später mit einem hohen Gewinn an das Württembergische Staatsrentamt weiterverkaufte.  Beim Auszug gab Moritz Horkheimer etwa 40-50 Bilder in den Stuttgarter Kunsthandel und nahm nur die für ihn wichtigsten Werke in die neue, kleinere Wohnung in der Reinsburgstraße 30/II mit. 1939 musste er 7,4 Kilo Silber, d.h. Schmuck, Besteck, Leuchter etc. zwangsweise an die Städtische Pfandleihe in Stuttgart abliefern; unabhängig von der eventuellen kunsthistorischen Bedeutung der Stücke wurde bei dieser Zwangsabgabe nur der Materialwert ausgezahlt. Selbst dieser unverhältnismäßig niedrige Erlös ist jedoch nie an das Ehepaar geflossen, da das gesamte Vermögen per Sicherheitsanordnung der Gestapo am 15. September 1938 gesperrt worden war.

1939 entschloss sich das Ehepaar zur Emigration in die Schweiz. Erneut versuchten sie, die verbliebenen Kunstwerke über verschiedene Kunsthändler in Stuttgart zu verkaufen, um die Reichsfluchtsteuer begleichen zu können.  Am 3. Juli 1939 reisten sie mit dem Zug nach Bern aus. Bei der Ausreise durften sie fast nichts mitnehmen, wurden aber trotzdem an der Grenze peinlich genau durchsucht. Ein Freund der Familie, der die Senioren begleitete, wurde nach seiner Rückkehr nach Stuttgart von der Gestapo verhört. Die Wohnungseinrichtung wurde im Auftrag der Horkheimers bei einer Spedition in Stuttgart eingelagert; dort wurde sie 1942 von der Gestapo beschlagnahmt und verbrannte 1944 bei einem Fliegerangriff. Unklar bleibt bis heute, ob und welche Kunstwerke sich in diesem Depot befunden hatten.

Das Ehepaar verbrachte in Bern seinen Lebensabend in einer Pension. Mit ihrem Sohn standen sie zunächst in regem Briefkontakt; bedingt durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sollten sie sich jedoch nie wiedersehen. Max Horkheimer und seine Ehefrau Maidon schickten den Eltern noch 1938 und 1940 Glückwünsche zum Geburtstag, die sie auf einer Schallplatte aufgenommen hatten. Moritz Horkheimer starb am 20. Januar 1945 in Bern, seine Frau am 1. März 1946. Ihr Nachlass ging im Erbgang an den Sohn Max und wurde Teil seines Nachlasses im Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt.

1949 kehrte Max Horkheimer nach Frankfurt zurück, wo er das „Institut für Sozialforschung“ neu aufbaute. Später versuchte er, seine Wiedergutmachungsansprüche in Stuttgart durchzusetzen; dabei lag ihm vor allem die Kunstsammlung am Herzen. Horkheimer ging davon aus, dass zahlreiche Gemälde seiner Eltern noch in Stuttgart vorhanden seien; er glaubte nicht daran, dass sie im Lager der Spedition verbrannt waren. Es gelang ihm tatsächlich, das eine oder andere Kunstwerk ausfindig zu machen; trotzdem erhielt er aus Stuttgart keines zurück. Völlig frustriert zog er 1966 (!) seinen Antrag auf Rückgabe bzw. Entschädigung zurück.

Im selben Jahr versuchte er auf anderem Wege, zumindest den Picasso zu finden. Nach Rücksprache mit dem Berner Kunsthändler Eberhard W. Kornfeld schaltete er im Februar 1966 eine Suchmeldung in der Münchner Ausgabe der „Weltkunst“. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Pastell jedoch – was Horkheimer damals nicht wusste – bereits in einer amerikanischen Privatsammlung.

1953 wurde eine Straße im Industriegebiet Zuffenhausen nach Moritz Horkheimer benannt; sein Sohn erhielt erst nachträglich und zufällig Kenntnis davon. Das Verwaltungsgebäude der Firma, das wegen seiner Jugendstilfassade seit 1986 unter Denkmalschutz steht, ist heute noch erhalten.  Max Horkheimer wurde 1970 die Bürgermedaille der Stadt Stuttgart verliehen; nach seinem Tod wurde 1974 eine Anlage in Zuffenhausen nach ihm benannt.

Text: Anja Heuß
Schlagwort: Stuttgart-Nord
Quellenhinweise:

Archivzentrum der Universitätsbibliothek Frankfurt, Nachlass Horkheimer (Na 1)
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 I Bü 59017; FL 300/33 I Bü 788, Bü 13020-13021, Bü 14305-14307, Bü 14505,Bü  20105, Bü 21382
Stadtarchiv Stuttgart 201/1 Sozialamt 2745 Stiftung Horkheimer
Stadtarchiv Stuttgart 8600 SO-Bestand 172

Literaturhinweise:

Anja Heuß, Die Sammlung von Moses Moritz Horkheimer, in: Bibliotheken und Sammlungen im Exil, hg. von Claus-Dieter Krohn/Lutz Winckler, München 2011 (Exilforschung, Ein internationales Jahrbuch, Bd. 29), S. 139-153.
Christine Breig, Der Villen- und Landhausbau in Stuttgart 1830-1930. Ein Überblick über die unterschiedlichen Umsetzungen und Veränderungen des Bautypus Villa in Stuttgart. (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Bd. 84), Stuttgart 2004, hier: S. 232f.
Albrecht Gühring (Hg), Dorf-Stadt-Stadtbezirk, Stuttgart 2004, hier: S. 343, 402.
Werner Skrentny/Rolf Schwenker/Sibylle Weitz/Ulrich Weitz, Stuttgart zu Fuß, Stuttgart 2011, hier: S. 450.
http://sammlungen.uni-frankfurt.de/objekt/70/gl-ckw-nsche-zum-80-und-82-geburtstages-moritz-horkheimers/
http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=755&mid=66

GND-Identifier: 1017140596
Publiziert am: 24.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Anja Heuß, Moritz Moses Horkheimer (1858-1945), publiziert am 24.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/e59d2dcb-4780-4242-a250-56893a1980dc/Moritz_Moses_Horkheimer.html