Bei der Sankt Leonhards Vorstadt (heute Esslinger Vorstadt) handelt es sich um die erste Stuttgarter Stadterweiterung. Ihren Namen hat sie von der Leonhardskapelle, um die sie ab dem Ende des 14. Jahrhunderts entstand. Heute wird vielfach vom Leonhards- und Bohnenviertel gesprochen.

Die Sankt Leonhards Vorstadt entstand ab dem späten 14. Jahrhundert als erste Erweiterung der mittelalterlichen Kernstadt. Aufgrund der dichten Bebauung sowie den engen Gassen im heute sogenannten Innenstadtoval hatte sich der Handel mit sperrigen Gütern vor die Stadt verlagert. Entlang der Straße nach Esslingen bzw. Tübingen, die südlich an der Stadt vorbeiführte, hatte sich unweit der 1337 erbauten Leonhardskapelle eine Art Straßenmarkt gebildet.

Angelehnt an das Modell der Prager Neustadt mit dem Wenzelsplatz wurde in der Folge ein großer, lang gezogener Handelsplatz mit abzweigenden Straßen, in denen sich neue Wohnräume, aber auch Werkstätten und Handelskontore unterbringen ließen, gebaut.

Diese neue Vorstadt muss etwa um 1420 angelegt worden sein und bot Wohnungen für Weingärtner und Handwerker. Beispielsweise für Gerber und Färber, für die die Nähe des Nesenbachs wichtig war, und Handwerker, deren Feuerstätten in der dicht bebauten Innenstadt eine große Gefahr darstellten – die Schmiede, die Hafner, die Brenner und die Wagner. Heute erinnern manche Straßennamen an die ersten Bewohner der Vorstadt.

Der Straßenmarkt in der Hauptstätter Straße wiederum entwickelte sich bald zu einem Handelszentrum. Hier siedelten sich Kaufleute, Fuhrunternehmer und Gastwirte an, im Süden des Gebiets die Weingärtner und im Osten, Mitte des 15. Jahrhunderts, womöglich aus der Innenstadt vertrieben, die Juden.

Zwischen 1463 und 1466 wurde die Leonhardskirche durch Baumeister Abelin Jörg zur gotischen Hallenkirche ausgebaut. Im selben Zeitraum wurde damit begonnen, die Vorstadt zu befestigen. Graf Ulrich V. der Vielgeliebte (1413-1480) ließ zunächst einen Wassergraben um das Gebiet ziehen. Man begann auch mit dem Bau einer Mauer, deren Fertigstellung jedoch über hundert Jahre auf sich warten ließ. Erst Herzog Christoph (1515-1568) ließ die äußere Stadtmauer um 1565 innerhalb weniger Jahre bauen.

Nachdem die Wehrfunktion der mittelalterlichen Stadtmauern durch die Weiterentwicklung der Kriegstechnik weitgehend überholt war, wurden diese häufig auf der innenliegenden Seite bebaut. 1604 gab Herzog Friedrich die direkt hinter der Mauer liegenden Gärten als Bauplätze frei. Dreißig kleine Häuschen wurden hier an die Mauer angelehnt, teilweise sogar als Mauerüberbau errichtet. Bis Ende des 18. Jahrhunderts entstanden Häuser eher kleinbürgerlichen Zuschnitts. Die Bewohner waren meist arme Leute und manchmal solche, mit denen man wenig zu tun haben wollte. So hatte beispielsweise der Scharfrichter in der Richtgasse sein Zuhause – ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes vor der Stadtmauer auf dem heutigen Wilhelmsplatz.

In dieser Zeit entstand wohl auch der Spitzname der Sankt Leonhards Vorstadt: „Bohnenviertel“. Die ärmere Bevölkerung baute in den Hinterhöfen Gemüse an. Insbesondere Bohnenpflanzen gediehen gut auf dem Stuttgarter Keupermergelboden. Hinter und zwischen den Häusern sowie entlang der Fassaden sah man überall in der Vorstadt Bohnen ranken. Am Dreikönigstag wurde ein Kuchen gebacken, in dem eine Bohne versteckt war. Wer dieses Kuchenstück bekam, wurdezum „Bohnenkönig“ gekrönt und auf einer Sänfte durch die Gassen getragen. Anschließend durfte der Finder bei einem Gelage Hof halten. Am Schluss der Feierlichkeiten folgte nach übermäßigem Essen und Trinken ein in Gebrüll ausartender Gesang, der im Volksmund als das „Bohnenlied“ bezeichnet wurde.

Eine Aufwertung erfuhr die Vorstadt erst in der Gründerzeit, als vermehrt bürgerliche Familien in das Viertel zogen und sich die Bautätigkeit verstärkte. Inspiriert von Bauformen der Romanik, Gotik, der Renaissance und des Barock baute man nach außen hin recht aufwendige Gebäudeblocks aus Natur- und Backstein. Diese Häuser hatten großartige Portale und viele Details sehr gelungener Bauplastik. Auch verschwanden langsam die Hinterhofgärten. An ihrer Stelle siedelten sich kleine Gewerbebetriebe in den Innenhöfen an.

Bereits in den späten 1930er Jahren gab es Pläne, einen Teil der Vorstadt abzureißen und nach dem Vorbild der Stadt Frankfurt am Main durch ein sogenanntes „Technisches Rathaus“ zu ersetzen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderte jedoch die Umsetzung. Danach war die Sankt Leonhards Vorstadt ein Trümmerhaufen. Der Stadtplan über die Zerstörungsflächen vermerkt bereits am 20. Dezember 1944 für die Zone H (Stadtkern und Sankt Leonhards Vorstadt) einen Zerstörungsgrad von 80 %. Nach der Beseitigung des Trümmerschutts verblieben große Freiflächen. Andere Häuser waren stark beschädigt und konnten zunächst meist nur notdürftig repariert werden.

1945 sollten daher im Rahmen eines Altstadtwettbewerbs Ideen für den Wiederaufbau gesammelt werden, es kam allerdings nicht zur Durchführung. Große Teile der angestammten Bewohner zogen in andere Stadtbereiche. In der Vorstadt wohnten nun meist ältere Leute, die ihr Stadtviertel nicht verlassen wollten, Angehörige des Milieus oder Gastarbeiter. Der Ausbau der B14 zur mehrspurigen Südtangente des Cityrings durchbrach schließlich die gesamte Struktur der Vorstadt und schnitt sie sichtbar von der Stadtmitte ab. Viele Kunden, die bis dahin noch zum Einkaufen hierherkamen, überwanden diese Trennungslinie nicht mehr und blieben fern. Einige kleine Läden und Handwerksbetriebe mussten deshalb ihr Geschäft schließen oder in einen anderen Stadtbezirk verlegen.

Mitte der 1960er Jahre wurden die Vorkriegsplanungen für das Technische Rathaus wiederaufgenommen und zu diesem Zweck 1970 ein städtebaulicher Wettbewerb für die Überbauung durch ein Behördenzentrum ausgeschrieben. Anders als bei den früheren Planungen war nun nicht mehr ein reines Verwaltungsgebäude gewünscht, sondern eine funktionierende Mischung von Büros, Läden, Wohngeschossen und Tiefgarage. Vorschläge, die Hochhäuser enthielten wurden, vom Preisgericht abgelehnt. Die Arbeiten der Architekten Zinsmeister/Scheffler sowie Ostertag wurden jeweils mit einem 1. Preis bedacht. Allerdings wurden die Ideen nicht umgesetzt. Baubürgermeister Hansmartin Bruckmann, der 1974 sein Amt antrat, betonte 2014 in einem Interview über diese Zeit, dass es bereits damals „eine unmögliche Vorstellung geworden sei, das Bohnenviertel platt zu machen. Diese Zeit [war] vorbei.“ Nach Bekanntwerden der Wettbewerbsentwürfe hatte sich eine Bürgerinitiative gebildet, deren Ziel es war, das Gebiet in seiner ursprünglichen Struktur als typisches innerstädtisches Viertel zum Wohnen und Arbeiten zu erhalten. Diesem Wunsch aus der Bevölkerung schlossen sich auch viele Fachleute an – unterstützt durch den neuen Oberbürgermeister Manfred Rommel, dem an der Belebung der Innenstadt durch ein intaktes Wohngebiet mehr gelegen war als an einer Verödung durch gebietsüberdeckende Verwaltungsbauten.

Die Stadt schrieb deshalb 1976 erneut einen Ideenwettbewerb aus – diesmal jedoch mit der Zielsetzung eines gemischt genutzten und verkehrsberuhigten Wohngebiets mit Erhalt der vorhandenen Bebauung und Neubauten, die dem Charakter des Gebiets entsprachen. An dem internationalen Wettbewerb nahmen 49 Architekten teil. Je einen 1. Preis erhielten die Stuttgarter Architekturbüros Volz + Schenk und Bidlingmaier/Egenhofer. Auf der Basis der Wettbewerbsentwürfe und mit vielen Anregungen aus der Bevölkerung entstand der städtebauliche „Rahmenplan Bohnenviertel“. Von diesem ausgehend wurden weitere Wettbewerbe für die einzelnen Bauabschnitte ausgeschrieben. Der erste Bauabschnitt wurde sogar als Studien- und Modellvorhaben durch das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau anerkannt, war aber an Bedingungen geknüpft; darunter beispielsweise die Erhaltung der Altbauten, Anpassung der Neubauten an die Struktur des Viertels, Begrünungen sowie eine Verkehrsberuhigung.

Ein erster Bauwettbewerb wurde 1977 für den Bereich zwischen der Charlottenstraße und der Rosenstraße ausgeschrieben, den die Architekten Darbourne and Darke aus Richmond zusammen mit dem Stuttgarter Architekturbüro Weber und die Baseler Architektengruppe ARGOS zusammen mit dem Stuttgarter Büro Haag gewannen. Die in der Folge umgesetzte Blockrandbebauung hat weit ins Bohnenviertel hinein die Funktion eines Lärmschutzwalls zur Charlottenstraße. Die Wohnungen sind so konzipiert, dass die „Lebensräume“, also Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer, zumeist zum begrünten ruhigen und sonnigen Innenraum hin liegen.

Insgesamt wurden bis in die 1990er Jahre zehn Baublocks im Bohnenviertel entsprechend dem Rahmenplan neu- bzw. umgestaltet. Die Bohnenviertel-Sanierung war eine der ersten innerstädtischen Sanierungen in Deutschland mit der Zielsetzung einer Mischung von Wohnen, Leben und Arbeiten. Sie hat über die Grenzen hinaus in der Fachöffentlichkeit Beachtung erfahren. Auch die Begleitung der Maßnahmen durch die Bürgerinitiative Bohnenviertel war für den Erfolg durchaus förderlich. So war es beispielsweise den erheblichen Protesten zu verdanken, dass das Barockhaus in der Rosenstraße 36 nicht abgebrochen wurde. Das Anfang des 18. Jahrhunderts erbaute Haus war das Eckgebäude einer an die Stadtmauer angebauten Reihe von Häusern. Reste der Stadtmauer haben sich im Erdgeschoß seiner östlichen Giebelseite erhalten. Einer der Besitzer und Bewohner war 1794 der Weingärtner Philipp Durst. Seit 1986 ist in dem sanierten Gebäude ein Kindergarten untergebracht.

Der Bereich südwestlich des Züblin-Parkhauses ist heute als Leonhardsviertel bekannt. Hier entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein innerstädtischer Rotlichtbezirk, der immer noch das Gebiet bestimmt und seit Jahren kontrovers diskutiert wird. In der Nachkriegszeit war der von Bars, Stundenhotels und Nackttanz-Etablissements dominierte Teil der Innenstadt jedoch noch weitaus größer. Besonders im Bereich zwischen Hauptstätter Straße und Eberhardstraße fand sich eine große Ansammlung solcher Einrichtungen – über Stuttgart hinaus als „Vereinigte Hüttenwerke“ ein Begriff. Das Leonhardsviertel allerdings ausschließlich als „Vergnügungsviertel“ zu bezeichnen, war zu keiner Zeit berechtigt. Immer gab es dort auch bürgerliche Lokale, Weinstuben, Handwerksbetriebe und Kultureinrichtungen. Ein ganzer Block zwischen Lazarett- und Jakobstraße wurde bereits in den 1980er Jahren zum Wohnen ausgebaut und der Innenbereich als Aufenthaltsfläche für die Bewohner gestaltet.

Text: Herbert Medek
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Akten des Amts für Stadtplanung und Stadterneuerung der Landeshauptstadt Stuttgart.

Literaturhinweise:

Otto Borst, Stuttgart, Die Geschichte der Stadt, Stuttgart 1986.
Hannsmartin Decker-Hauff, Geschichte der Stadt Stuttgart, Bd. 1, Stuttgart 1966.
Hermann Missenharter, Herzöge, Bürger, Könige, Stuttgart 2005.
Antero Markelin/Rainer Müller, Stadtbaugeschichte Stuttgart, Stuttgart 1991.
Herbert Medek/Andrea Nuding, Heusteig, Gerber, Bohnenviertel. Stuttgarts Innenstadtquartiere, Tübingen 2015.
Stadtmedienzentrum Stuttgart/medialesson GmbH (Hg.), Stadtentwicklung Stuttgart. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2012 [DVD].

Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Medek, Sankt Leonhards Vorstadt, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/dccd3d24-8813-4748-9436-4312e7e384e8/Sankt_Leonhards_Vorstadt.html