Obwohl kein gebürtiger Stuttgarter, war Eduard Mörike zunächst familiär, später beruflich mit Stuttgart verbunden und bewohnte in seiner zweiten Lebenshälfte - mit häufig wechselnden Adressen - die Stadt fast 25 Jahre lang. Die daraus erwachsene Ortskenntnis sowie das Ideal eines Lebensmittelpunktes, der die Lösung finanzieller und sozialer Probleme sowie ständischer Konflikte im stadtgeschichtlichen Gepäck hat, gehen ein in seine Märchendichtung „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“.

Am 8.9.1804 kam Eduard Friedrich Mörike in Ludwigsburg als siebtes der dreizehn Kinder des dortigen Stadt- und Amtsarztes Karl Friedrich Mörike (1763-1817) und der Pfarrerstochter Charlotte Dorothea, geb. Beyer (1771-1841), zur Welt. Sechs Geschwister starben im ersten Lebensjahr. 1815 wurde der Vater durch einen Schlaganfall pflegebedürftig, was den ältesten Bruder Karl (1797-1848) dazu bewog, die Geschwister urkundlich zu gegenseitiger Unterstützung zu verpflichten.

Als der Vater 1817 starb, kam Eduard Mörike zu seinem Onkel, dem Obertribunalpräsidenten Eberhard Friedrich von Georgii (1757-1830) nach Stuttgart (Büchsenstraße 419), wo Kulturgrößen wie Gustav Schwab, Georg und Johann Friedrich von Cotta, Johann Christoph Friedrich Haug und Johann Heinrich Dannecker verkehrten.

Mörike, der in Ludwigsburg mit seinen Schulkameraden Rudolf Lohbauer, Friedrich Kauffmann, Hermann Hardegg, Friedrich Theodor Vischer und David Friedrich Strauß die Lateinschule durchlaufen hatte, besuchte im Schuljahr 1817/18 das Stuttgarter Gymnasium illustre und absolvierte darauf das landesübliche Theologiestudium bis zum Herbst 1822 im Niederen theologischen Seminar in Urach, dann im Tübinger Stift. Da seine Mutter mit dem Rest der Familie im Herbst 1818 nach Stuttgart in die Büchsenstraße 411 gezogen war, besuchte er die Stadt regelmäßig - nicht zuletzt bei Beziehungskrisen.

Seine erste Liebe (1817-21) zu Clara Neuffer, einer Cousine mütterlicherseits, erwuchs aus dem familiären Umfeld, endete aber durch Claras Verlobung mit einem Anderen. Überlagert wurde diese Erschütterung von der Faszination, die 1823-24 von der schwierigen Persönlichkeit der Ludwigsburger Kellnerin Maria Meyer ausging. Unter dem Einfluss genialischer Kommilitonen wie Rudolph Lohbauer, Wilhelm Waiblinger oder Ludwig Amandus Bauer und angeregt auch durch den Umgang mit dem umnachteten Hölderlin verstrickte sich Mörike in eine Art Obsession, bis seine Schwester Luise intervenierte. Mörike mied weitere Kontakte zu Maria Meyer, ging zu Lohbauer und Waiblinger auf Distanz, reagierte aber auf die Spannungen psychosomatisch. Der zur Rekonvaleszenz gedachte Aufenthalt in Stuttgart im Sommer 1824 konfrontierte ihn mit weiterem Leid, als sein Bruder August (*1807) am 25.8. starb. Dass man vier Wochen zuvor gemeinsam eine Don Giovanni-Aufführung im Stuttgarter Theater besucht hatte, begründete Mörikes emotionales Verhältnis zu dieser Oper, wie es in „Mozart auf der Reise nach Prag“ zum Ausdruck kommt.

Im Oktober 1826 bestand Mörikes in Tübingen das theologische Abschlussexamen. Die folgenden Jahre leistete er die von den Pfarramtsanwärtern so genannte „Vikariatsknechtschaft“ mit geringem Gehalt an elf schwäbischen Orten ab. Anders als seinen beiden Uracher Freunden und lebenslangen Unterstützern Wilhelm Hartlaub, der bereits 1830 die Nachfolge seines Vaters als Pfarrer antreten konnte, und Johannes Mährlen, dem über eine Anstellung als Korrektor bei Cotta in Augsburg der Ausstieg gelang und dessen weiteres Leben durch eine Gelehrten-Karriere sowie die Einheiratung in eine der einflussreichsten Stuttgarter Familien an Bedeutung gewann, boten sich Mörike trotz seiner ab 1828 anwachsenden Publikationsliste keine Sicherheiten. Einen im Oktober 1828 geschlossenen, einigermaßen auskömmlichen Vertrag als Auftragsschriftsteller bei den Stuttgarter Brüdern Franckh kündigte er nach zwei Monaten wegen der Akkordbedingungen. 1834 wurde er Pfarrer in Cleversulzbach (heute Ortsteil der Stadt Neuenstadt am Kocher). In die Zwischenzeit (1829-33) fiel seine Ver- und Entlobung mit Luise Rau, der Tochter des verstorbenen Plattenhardter Pfarrers. Das Scheitern auch dieser Beziehung erklärt sich aus dem Überhandnehmen familiärer Probleme ab den 1830er Jahren.

Die älteste Schwester Luise hatte 1827 eine Tuberkulose nicht überlebt. 1841 starb die Mutter. Als übermäßige Hypothek wirkten sich die Konflikte aus, in die alle drei verbliebenen Brüder mit dem Gesetz gerieten. Karl wurde 1831 und 1837 zu Festungs- und von 1840-43 zu Arbeitshaushaft verurteilt, Adolf 1838/39 in das Arbeitshaus eingewiesen, und Louis‘ Gläubiger verloren die Geduld. Damit ging nicht nur ein Stück Familienehre verloren, sondern auch Existenzgrundlagen, so dass Mörike, dessen Jahresgehalt 1831 400 fl [Gulden], 1833 600 fl und ab 1834 638 fl betrug – ein Darlehen um das andere aufnehmen musste, um den Schuldenverkehr seiner Brüder unter Kontrolle halten zu können. 1843 sah er sich seinem Pfarramt nicht mehr gewachsen und bat aus gesundheitlichen Gründen – Mörike litt an rheumatischen Schüben – um Pensionierung. Seine Pensionsansprüche beliefen sich auf 280 fl.

Aufgefangen von Freund Hartlaub in Wermuthshausen, zog Mörike mit seiner Schwester Clara, die seit 1834 dauerhaft zu seinem Haushalt gehörte, 1844 nach Schwäbisch Hall, dann nach Mergentheim, in der Hoffnung, durch eine sparsame Lebensführung, Verlagshonorare und die Bewerbung um eine bibliothekarische oder museale Tätigkeit eine Existenzgrundlage zu schaffen. In seinem letzten Cleversulzbacher Jahr (1843) hatte er sich in Friederike Faber, die Schwägerin des dortigen Pfarrers Otto Schmidlins, verliebt und hegte Heiratspläne, die sich 1845 aufgrund der immer noch angespannten Finanzsituation zerschlugen.

Ab April 1845 wohnten er und seine Schwester im Haus des Oberstleutnants Valentin von Speeth, der noch im selben Jahr starb. Die Hausgemeinschaft begünstigte eine Annäherung an Tochter Margarethe. Trotz konfessioneller Einwände vonseiten Hartlaubs, des Zerwürfnisses mit Margarethes Bruder, Rivalitäten seiner Schwester und eigener gesundheitlicher Beschwerden. entschloss sich Mörike 1851 zur Ehe, nachdem sich seine Finanzen durch Publikationshonorare langsam entspannt und ihm die Stuttgarter Freunde eine gering dotierte Stelle als Literaturlehrer in der Nachfolge von Gustav Schwab am Katharinenstift verschafft hatten. Zusätzliche Privatvorlesungen, Pensionsgäste sowie ein Darlehen der Schwiegermutter ermöglichten das Auskommen. Für stabile Verhältnisse sorgten eine Erbschaft Margarethes (1856), jährliche Zuwendungen in Höhe von 400 fl aus den Kassen des württembergischen Dispositionsfonds (ab 1858) und 300 Thl. [Taler] aus der Deutschen Schillerstiftung (ab 1863). Sie lassen sich auch an konstanteren Stuttgarter Adressen ablesen. Die Mörikes wohnten vom 20.11.1851 bis zum 204.1854 in der Hospitalstraße 36, vom 21.4.1854 bis zum 27.7.1858 in der Alleenstraße 9. Die Ehrenpromotion 1852 und die Verleihung des Professorentitels 1856 zeugen von wissenschaftlicher Anerkennung. 1855 und 1857 wurden die Töchter Fanny und Marie geboren. Doch ab der Mitte der 1860er Jahre (Mörikes Tätigkeit für das Katharinenstift endete 1866) zeigen vermehrte Umzüge innerhalb und außerhalb Stuttgarts an, dass die Eheprobleme im Hause Mörike überhand genommen hatten. Am 8.3.1873 schließlich wurde die Trennung durch zwei verschiedene Stuttgarter Adressen evident. Mörike mietete in der Nähe der derzeitigen Familienwohnung, die sich in der Reinsburgstraße 67 befand, ein Zimmer in der Reinsburgstraße 80. 1873 wurden die Unterhaltszahlungen verhandelt. Wenige Tage vor seinem Tod am 4.6.1875 versöhnte sich Margarethe mit ihrem Mann, der auf dem Stuttgarter Pragfriedhof (B 623) begraben wurde.

Mörike war Zeuge zweier Revolutionen (1830/1848) und zweier Kriege (1866/1870). Obgleich Verfassungsfreund und auch konfessionell tolerant gesinnt, hielt er sich anders als viele seiner Kommilitonen bei radikal-demokratischen Verlautbarungen zurück. Sein Bruder Karl hatte den Konflikt mit der Demagogenverfolgung bereits ausgereizt.

Angesichts der Belastungen dieses Lebens wirken die Vorwürfe, die Mörike von Zeitgenossen wie Vischer, Strauß und Heine wegen der Possierlichkeit seiner zeitraubenden Hobbys wie Zeichnen, Petrefakten sammeln, Töpfern und Gravuren, der Vernachlässigung seines dichterischen Werkes und seiner vormärzlichen Verantwortung zugunsten einer Vorliebe für Märchen, Dinggedichte, der Produktion unzähliger Gelegenheitsgedichte und Briefe, umfassender Übersetzungs- und Editionsarbeiten und eines unspektakulären, aber nachhaltigen Mentorings anderer Dichter – z.B.  Heyses und Storms - einstecken musste, verfehlt.

Nicht nur, dass Mörikes Kultivierung der dinglichen Welt in seiner Dichtung mit eigener Perspektive gegen ein zu starkes lyrisches Ego vernehmlich wird: Er unterlegt seine Texte mit seinen Lebensthemen und erwirkt so die für seine frührealistische Poetik zentralen Authentizitätseffekte. So sind im „Maler Nolten“ (Entstehungsdatum 1832) die Zerrissenheit zwischen zwei Lebens- und Liebeskonzepten, samt ihren psychischen Folgen präsent, in den „Peregrina“-Gedichten der Zusammenbruch eines traditionellen Liebeskonzeptes, in „Der Schatz“ (1835) der plötzliche Verlust von Kindheit und erster, einziger Liebe sowie der Verdacht der Veruntreuung eines Betrages, der in seiner Höhe den durchschnittlichen Darlehensbeträgen Mörikes entspricht. In „Lucie Gelmeroth“ (1839) ist die Korrektur eines nach einem Todesfall ausgeprägten Schuldkomplexes zu finden, in der „Bauer und sein Sohn“ (1839) die Aggressivität, die aus Armut und Perspektivlosigkeit entsteht, im „Stuttgarter Hutzelmännlein“ (1853) eine Depressionserkrankung, Schwierigkeiten bei Berufs- und Partnerwahl, soziale Benachteiligungen und damit verbundene Vorurteile und Kleinkriminalität in „Mozart auf der Reise nach Prag“ (1856) die Probleme des Ausgleichs zwischen künstlerischer Existenz und familiärer Verantwortung. In seiner in Stuttgart am 20. Mai 1839 uraufgeführten Oper „Die Regenbrüder“ hängt die Erlösung der Geschwisterpaare von der Wahl des richtigen Partners ab.

Mörike konstruiert Welten, in denen Vertreter ausgleichender Gerechtigkeit für Heilung und Rehabilitation sorgen. Mithilfe von Märchen- und Sagenanteilen kann er diese virtuos personifizieren und umgekehrt den realhistorischen Hintergrund der Volksmythen herausarbeiten. Damit kommt er dem Historismus eines David Friedrich Strauß und den Realismuspostulaten der Literaturkritik seiner Zeit entgegen. Mit der Aufmerksamkeit für eine prinzipielle Gegenbildlichkeit zu unglücklicheren und achtloseren Lebensverläufen („Ist sie [die Kunst] denn was anders, als ein Versuch, das zu ersetzen, zu ergänzen, was uns die Wirklichkeit versagt“, „Maler Nolten“, WB 3 332) gelesen, verlieren auch die „Idylle vom Bodensee“ (1846) und „Der alte Turmhahn“ (1852) ihre biedermeierliche Verstaubung.

Was die Stuttgart-Bezüge betrifft, so sind deutliche Ermahnungen zur politischen Verantwortung der Hauptstadt zum einen enthalten im „Orplid“-Zwischenspiel des „Maler Nolten“, das die mangelnde Solidarität Wilhelms I. mit seiner ersten Liebe zur Tochter des Landschaftskonsulenten Abel und damit den Württembergischen Landesständen codiert. Zum anderen ruft Mörike im „Stuttgarter Hutzelmännlein“ das Ideal eines Lebensmittelpunktes auf, der die Lösung finanzieller und sozialer Probleme sowie ständischer Konflikte im stadtgeschichtlichen Gepäck hat.

Text: Ursula Regener
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Eduard Mörike, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg und in Zusammenarbeit mit dem Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. hrsg. von Hubert Arbogast, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bernhard Zeller, Stuttgart1967ff.

Literaturhinweise:

Hans Egon Holthusen, Eduard Mörike. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 12. Aufl., Hamburg 2004.
Mathias Mayer, Eduard Mörike, Stuttgart 1998.
Mathias Mayer, Mörike und Peregrina. Geheimnis einer Liebe, München 2004.
Udo Quak, Reines Gold der Phantasie. Eduard Mörike. Eine Biographie, Berlin 2004.
Hans Ulrich Simon, Mörike-Chronik. Stuttgart 1981.
Hans Ulrich Simon, Mörike-Häuser. Wohnen in Stuttgart zwischen 1851 und 1875, Stuttgart 1996.
Barbara Potthast, Kristin Rheinwald, Dietmar Till (Hg.), Mörike und sein Freundeskreis, Heidelberg 2015.
Thomas Wolf, Brüder, Geister und Fossilien: Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt, Tübingen 2001.

GND-Identifier: 118583107
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Ursula Regener, Eduard Mörike (1804-1875), publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/cd8f2d0e-a139-4039-99c9-d44d7533aecf/Eduard_Moerike_%281804-1875%29.html