Am 18./19. Oktober 1945 gab der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in Stuttgart bei einem Treffen mit einer ökumenischen Delegation eine Erklärung ab, die als Stuttgarter Schulderklärung in die Geschichte einging.

Die in 28 Landeskirchen gegliederten deutschen Protestanten wurden durch den Versuch der „Deutschen Christen“, mit staatlicher Unterstützung eine einheitliche, nationalsozialistisch ausgerichtete Reichskirche zu erzwingen, vor die größte Herausforderung seit der Reformation gestellt. Eine einheitliche Reichskirche kam jedoch nie zustande. Vielmehr entstand mit der Bekennenden Kirche eine Bewegung, die in allen Landeskirchen Anhänger fand und – abgesehen von den drei „intakten“ Landeskirchen (Bayern, Hannover und Württemberg) – von Bruderräten geleitet wurden.

Im August 1945 wählte die Kirchenkonferenz in Treysa eine neue Leitung der evangelischen Kirche in Deutschland, den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschlands (EKD), unter Vorsitz von Landesbischof Theophil Wurm. An der zweiten Sitzung des Rats der EKD am 18./19. Oktober 1945 in Stuttgart nahm eine Delegation des im Aufbau begriffenen Ökumenischen Rats der Kirchen mit Generalsekretär Willem Visser’t Hooft teil. Sie erhoffte als Voraussetzung für einen Neuanfang zwischen den deutschen Kirchen und der Ökumene ein konkretes Schuldbekenntnis der deutschen Kirchen.

Am Abend des 17. Oktober fanden zwei parallele Gottesdienste in der Markuskirche und im überfüllten Furtbachhaus statt, die von Landesbischof Wurm bzw. Prälat Hartenstein geleitet wurden. Martin Niemöllers in beiden Gottesdiensten gehaltene, aus dem Stegreif formulierte Predigt über ein Bußwort des Propheten Jeremia machte einen tiefen Eindruck auf die ökumenischen Gäste.

Am 18. Oktober tagte zunächst der Rat im Kleinen Sitzungssaal der Württembergischen Bibelanstalt. Am Nachmittag tagten Rat und Delegation gemeinsam im Kneipensaal der Akademischen Verbindung Vitruvia, das Gebäude war von der Stiftskirchengemeinde angemietet worden. Nach Ansprachen von Wurm und Visser’t Hooft legten einzelne Ratsmitglieder persönlich gehaltene Schuldbekenntnisse ab. Die ausländischen Gäste nahmen sie „mit tiefer Bewegtheit“ auf. Sie erbaten einen schriftlichen Text, den sie ihren Kirchen bringen konnten.

Bis spät in die Nacht wurde von den Ratsmitgliedern der Text der Stuttgarter Schulderklärung ausformuliert. Auf jeden Fall wollten sie eine Aufrechnung von Schuld und Gegenschuld vermeiden. Sie wussten sich „mit unserem Volk“ – so heißt es in der Erklärung – nicht nur in einer „großen Gemeinschaft der Leiden“, sondern auch in einer „Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“. Selbstkritisch formulierten die Ratsmitglieder stellvertretend für die ganze Kirche: „Wohl haben wir gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Der fertige Text wurde von den Ratsmitgliedern unterschrieben, u.a. von Landesbischof Wurm und von Martin Niemöller, der wenige Monate zuvor noch im KZ Dachau interniert gewesen war, sowie dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann.

Von den ausländischen Kirchen kam ein überwiegend positives Echo. Es war wie Martin Niemöller im Juli 1946 in Stuttgart formulierte, „der Weg ins Freie“. Auf diese Weise wurde die Evangelische Kirche in Deutschland sehr bald nach der bedingungslosen Kapitulation ein vollwertiges und aktives Glied in der Gemeinschaft der Kirchen in der Welt.

In Deutschland entbrannte hingegen ein heftiger Streit. Die einen hielten die Erklärung für eine politische Parole, andere sprachen ihr jegliche politische Bedeutung ab, wollten sie nur als vor Gott gesprochen verstehen. Die Erklärung schwieg jedoch zur großen Schuld an den Juden, von der auch die Kirchen sich nicht freisprechen konnten.

Die Schulderklärung war das erste öffentliche Wort in einer langen Reihe von Worten, in denen die evangelische Kirche in der Folgezeit zum politischen Geschehen Stellung nahm.

Text: Jörg Thierfelder
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Literaturhinweise:

Gerhard Besier/Gerhard Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985.
Martin Greschat (Hg.), Die Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945, München 1982.
Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Die Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19.Oktober 1945, in: Stuttgart im Zweiten Weltkrieg, hg. von Marlene P. Hiller, Gerlingen 1989, S. 549 f.
Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd. 4/II 1941-1945, Stuttgart 2007, S. 509-549.

GND-Identifier: 4058289-9
Publiziert am: 08.10.2019
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Thierfelder, Stuttgarter Schulderklärung, publiziert am 08.10.2019 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/cbe204f0-8b89-41ca-9518-ca4730ae7b7c/Stuttgarter_Schulderklaerung.html