Die Quellen des nach seinem zeitweiligen Betreiber auch „Neuner“ genannten Bades wurden zu Beginn der 1830er Jahre erbohrt, um die Wasserräder einer Textilfabrik im Winter eisfrei zu halten. Trinkgenuss und Badefreuden verliehen ihm seinen heutigen „Kultstatus“.

Die erste mechanische Baumwollspinnerei Württembergs entstand 1810 in Berg am Nesenbach, nahe seiner Mündung in den Mühlkanal. Dort hatte bis zum Ende des 13. Jahrhunderts eine kleine Wasserburg aufgeragt. In den Jahren 1830 bis 1832 ließ hier der Unternehmer Karl Bockshammer (1787-1862) Bohrungen niederbringen, um sein Unternehmen mit Warmwasser zu versorgen. Ziel der Bohrungen war vor allem, die antreibenden Wasserräder in der kalten Jahreszeit frei von Eis zu halten. In einer Tiefe von rund 40 Meter stieß man auf insgesamt fünf Quellen. Das ganzjährig 19 Grad Celsius warme Wasser speiste, nachdem es seinen eigentlichen Zweck erfüllt hatte, einen kleinen See, der an kühlen Sommerabenden und in kalten Wintern malerische Nebel verströmte – so berichten Zeitgenossen. In dem Textilbetrieb arbeiteten um 1840 rund 180 Menschen, später sogar noch mehr. Um Fabrik und See herum erstreckten sich Äcker, in jener Zeit meist mit Kartoffeln und Mais bepflanzt.

1855 verkaufte Bockshammer seinen Betrieb. Seine Nachfolger gaben ihn schon im folgenden Jahr an den Werkmeister Karl (Carl) Heimsch (1833-1880) und den Kunstgärtner Friedrich Neuner (1817-1883) weiter, der für Kronprinz Karl den Park der Villa Berg angelegt hatte. Heimsch und Neuner errichteten hier nun das Mineralbad Berg. Kernstück war das mehr als 2.000 Quadratmeter große Schwimmbecken – lange das größte seine Art in Deutschland –, in dem gebadet und auch geschwommen wurde. Es war umgeben von einem quadratischen Holzgebäude mit 130 Umkleidekabinen und 74 Kaltbaderäumen. Im sogenannten Fürstlichen Pavillon badeten die königlichen Nachbarn aus der Villa Berg. An den Ecken der südwestlich gelegenen Hauptfront sprangen zwei Pavillons vor, in denen sich Trinkbrunnen befanden. Ihr Wasser wurde bei vielerlei Krankheiten und Beschwerden empfohlen, vor allem zur Behandlung der Verdauungsorgane und der Lunge. In einem separaten Gebäude wurden warme Mineralbäder und russische Dampfbäder verabreicht. Ebenfalls zur Anlage gehörte ein aus Stein erbautes „Hôtel garni“ mit mehr als 50 Zimmern für Badegäste und, jenseits einer prächtigen Gartenanlage, das „Restaurations-Gebäude“ mit einem großen Tanz- und Konzertsaal sowie einem Speisesaal.

Im Jahre 1863 übernahm Friedrich Neuner das Bad alleine und betrieb es bis zu seinem Tode 1883. Immer wieder waren neue Ideen gefragt, um das Publikum anzulocken. So kam 1866 ein türkisches Bad hinzu. Riesige Aufmerksamkeit erregte 1871 die Ausstellung der zahlreichen humoristischen Tierfiguren des Stuttgarter Präparators Hermann Ploucquet (1816-1878). 1872 bis 1908 spielte im Restaurationsgebäude während des Sommers das „Kurtheater Berg“ vor allem unterhaltende Stücke. Ab den 1860er Jahren wurde das Wasser einer der Quellen als „Berger Urquell“ auch in irdene Krüge und später Glasflaschen abgefüllt.

Nach Friedrich Neuners Tod leitete sein Sohn Robert Hermann Neuner das Bad, dann dessen Schwager Ernst Burghard, ab 1905 schließlich dessen Schwiegersohn Karl Blankenhorn (1869-1943). Er veranstaltete Konzerte, etwa der „Wiener Deutschmeister“, die sich bald großer Beliebtheit erfreuten. Die Musiker spielten bei günstiger Witterung im Freien auf der Terrasse, bei ungünstigem Wetter im Saalbau. Man verglich das bunte Treiben gar mit dem Wiener Prater. Weniger angenehm hatten es oft die Kellner; 1911 etwa beklagten sie sich über zu lange Arbeitszeiten, geringe Bezahlung und schlechte Verpflegung.

1921 wurde das Mineralbad Berg in eine Aktiengesellschaft umgewandelt; 30% übernahm die Stadt Stuttgart, 70% blieben bei den Blankenhorns. So erhielt die Stadt auch auf dieses Bad einen gewissen Einfluss – das benachbarte „Leuze“ hatte sie schon 1919 gekauft. Im Jahre 1932 übernahm der Neffe Paul Blankenhorn (1907-1997) die Geschäftsführung im „Neuner“.

Die Zeiten, in denen Männer und Frauen gleichzeitig schwimmen durften, wurden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr ausgeweitet. Der Reiseführer „So ist Stuttgart“ aus dem Jahre 1933 deutete eine frivol-prickelnde Atmosphäre im ehrwürdigen Bad an. Das Berger Heimatbuch beschrieb die Anlage 1939 so: An das Schwimmbad „schließt sich eine [...] Parkanlage an mit Liegeplätzen für Luft- und Sonnenbäder, mit Spielplätzen für die Jugend und Sporttreibende, mit einem gutgeführten Restaurant und Wirtschaftsgarten [...]. Neben dem großen Schwimmbad befindet sich ein kleineres, bedecktes, heizbares Schwimmbad, das [...] Winterschwimmbad, mit einer Spiegelfläche von 200 Quadratmeter, das sommers als Frauenschwimmbad dient“. Außerdem gab es „das Warmbad mit seinen 40 vortrefflich mit kupfernen Wannen ausgestatteten Stahlbadkabinen [und] die 15 naturwarmen Bassinbäder“. Um eine neue, leistungsfähige Abfüllanlage des neu geschaffenen städtischen Kuramts Bad Cannstatt beim dortigen Mineralbad auszulasten, wurde die Wasserabfüllung in Berg 1940 eingestellt.

Im Zweiten Weltkrieg wurden die Gebäude mit den Kurbädern und das vormalige Kurtheater bei Luftangriffen praktisch ausgelöscht, im großen Schwimmbecken klafften Bombentrichter. Direkt nach 1945 ließ Paul Blankenhorn an der Stelle des Kurtheaters ein bescheidenes Wohnhaus, die sogenannte Blankenhorn-Villa errichten. 1948 begann der Badebetrieb provisorisch wieder, nach und nach wurde die gesamte Anlage repariert oder neu gebaut. Einen künstlerischen Akzent setzte Max Ackermann (1887-1975) im Jahre 1959 mit seinem farbigen Deckenfenster in der Eingangshalle. Unter dem Eintrag vom 1. März 1959 berichtet die Stadtchronik: „Mit dem Einbau einer Sauna ist jetzt der Wiederaufbau des Mineralbads Berg abgeschlossen. Das schon seit längerer Zeit benutzte Hallenschwimmbad entstand nach Plänen des Architekten Ludwig Blankenhorn.“ Hierbei handelte es sich um den Bruder des Geschäftsführers und Mitinhaber.

In den folgenden Jahrzehnten änderte sich baulich wenig im „Neuner“ – was später den nostalgischen Reiz der Anlage ausmachte. 2006 verkaufte Ludwig Blankenhorn d. J. (1949-2006), Besitzer seit 1997, seinen 70%igen Anteil an dem inzwischen verlustbringenden Objekt an die Stadt, die den Kurbereich einstellte. Seit 2016 wird das Bad behutsam, aber langwierig saniert – es soll seinen Charme der 1950er- und 1960er-Jahre, aus dem die große Beliebtheit resultierte, behalten.

Text: Ulrich Gohl
Schlagwort: Stuttgart-Ost
Literaturhinweise:

Carl Blankenhorn, Das Stuttgarter Mineralbad Berg, o. O. und o. J. [Stuttgart 1906].
Ernst Brösamlen, Das schöne Stuttgart-Berg. Ein Heimatbuch, Stuttgart 1939, hier S. 72-77.
Ulrich Gohl, Berger Urquell, in: Ulrich Gohl, Made in S-Ost, Produzierende Betriebe im Stuttgarter Osten von den Anfängen bis heute, Stuttgart 2016, S. 22-24.
Ulrich Gohl, Mechanische Spinnerei Karl Bockshammer, in: Ulrich Gohl, Made in S-Ost, Produzierende Betriebe im Stuttgarter Osten von den Anfängen bis heute, Stuttgart 2016, S. 28.
Harald Schukraft/Wolfgang Kress, Bäderstadt Stuttgart. Geschichte, Kultur und modernes Badeleben, S. 62-71.
Klaus Teichmann/Dominik Thewes, „Hier drin ist eine Welt für sich“. Im Mineralbad Berg zelebriert Stuttgart seinen Hang zum Schrägen, Stuttgart 2011.
D. V., Beschreibung des neuen Stuttgarter Mineralbades bei Berg, Stuttgart 1858.
Fritz West, So ist Stuttgart. Ein unterhaltsamer Begleiter für In- und Ausländer, Stuttgart 1933, hier S. 116 f.

GND-Identifier: 7849248-8
Publiziert am: 24.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Gohl, Mineralbad Berg ("Neuner"), publiziert am 24.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/bd03a71b-ed63-4ca3-b716-403f9cc5a237/Mineralbad_Berg_%28%22Neuner%22%29.html