In der Seestraße 39 befand sich ab Anfang April 1941 der sogenannte Judenladen, der einzige Ort in Stuttgart, an dem es von diesem Zeitpunkt an jüdischen Menschen in Stuttgart noch erlaubt war, Lebensmittel einzukaufen.

Mit dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten in Deutschland begann eine Politik, die die Bürger jüdischen Glaubens systematisch ausgrenzte, sozial isolierte und wirtschaftlich ausbeutete. Diese Politik umfasste das Verbot, öffentliche Ämter und bestimmte Berufe auszuüben, und enthielt umfangreiche Diskriminierungen in der Öffentlichkeit. Die Nürnberger Rassegesetze 1935 erklärten die Juden in Deutschland endgültig zu Menschen zweiter Klasse: Sie waren nun keine Staatsbürger mehr, sondern nur noch Staatsangehörige, Beziehungen zu „Ariern“ wurden unter Strafe gestellt. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 verschärfte sich dieser antisemitische Kurs noch einmal erheblich und gipfelte nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in der planmäßigen Ermordung der jüdischen Bevölkerung im deutschen Machtbereich.

In die lange Reihe der antijüdischen Maßnahmen gehörte auch die Einrichtung von sogenannten Judenläden an vielen Orten in Deutschland. Aufgrund der Tatsache, dass die zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA) gehörige Sicherheitspolizei im September 1939 als erste Institution des NS-Staates den Vorschlag machte, solche Läden reichsweit einzurichten, wurde diese Idee lange Zeit dem RSHA-Chef, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich (1904-1942), zugeschrieben. Dabei wurde auch von einem Erlass Heydrichs gesprochen, der die Schaffung von Judenläden angeordnet habe. Es zeigt sich jedoch in dieser Frage die entscheidende Rolle des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (RMEL) sowie vor allem der Kommunen und ihrer örtlichen Ernährungsämter.

Bereits im März 1940 legte das RMEL fest, dass Juden keine Lebensmittel beziehen dürften, die kriegsbedingten Abgabebeschränkungen unterlagen. Auch von anlassbezogenen Sonderzuteilungen waren sie ausgenommen, wie etwa von Fleisch, Butter und Kakao- sowie Schokolade-Produkten, die jedem anderen Deutschen an Weihnachten zustanden. Später wurden zusätzlich noch die Rationen dieser Lebensmittel und auch von Hülsenfrüchten empfindlich gekürzt. Hinzu kam, dass sogenannte Normalverbraucher – Menschen in einem Arbeitseinsatz, der nicht als kriegswichtig eingestuft wurde – und Kinder mit verringerten Zuteilungen auszukommen hatten. Von der Reichskleiderkarte, dem einzigen Weg, um im Krieg an neue Textilien und vor allem an Schuhe zu kommen, waren die Juden ohnehin ausgeschlossen. Überdies wurden die Lebensmittelkarten der Juden mit einem „J“ gekennzeichnet, um ihre Besitzer von vornherein kenntlich zu machen. Die Frage, ob Juden in Läden bestimmte Einkaufszeiten zugewiesen werden sollten, wollte das Ministerium jedoch den Ernährungsämtern überlassen. Ein Beweis dafür, dass die Kommunen ebenso wie die lokalen Dienststellen von Reichsbehörden durchaus Spielräume bei der Umsetzung von Maßnahmen auch in der Judenpolitik besaßen.

Dies wird gerade auch im Falle Stuttgarts deutlich. So äußerte das Ernährungsamt bereits Anfang Januar 1941 den Gedanken, die Lebensmittelkarten der Juden in Stuttgart nicht mehr nur auf dem Stammabschnitt mit dem Buchstaben „J“ abzustempeln, sondern auch auf allen Einzelabschnitten, was sogar die Stuttgarter Leitstelle der Gestapo damals für überflüssig hielt. Mit dieser Praxis wollte das Ernährungsamt verhindern, dass Juden mit gewöhnlich erscheinenden Kartenabschnitten Lebensmittel erstanden, die „arischen“ Deutschen vorbehalten waren. Als Vorbild nahmen sich die Stuttgarter dabei die schon in Leipzig und später in Frankfurt am Main geübte Praxis.

Ebenfalls an Leipzig orientierte sich der Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin mit dem Plan, in Stuttgart einen speziellen Laden für die jüdische Bevölkerung einzurichten. Ihm war bewusst, dass die Beschränkung auf eine einzige Einkaufsmöglichkeit – in Leipzig gab es immerhin mehrere – zu Härten für die Betroffenen führen musste. In einer von Reichsstatthalter Wilhelm Murr angeforderten Stellungnahme sah die Stapo-Leitstelle Stuttgart zwar keinen Bedarf für einen „Judenladen“. Die Stadt errichtete diesen Laden dennoch im Zusammenwirken mit dem stellvertretenden Leiter der Fachgruppe Einzelhandel Nahrungs- und Genussmittel in der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel der Deutschen Arbeitsfront (DAF), Willy Appelt. Dieser war früher in Leipzig tätig gewesen und hatte für Strölin den Vorschlag dieser sogenannten „Sonderverkaufsstelle für Juden“ erarbeitet. Eingerichtet wurde der Laden in der ehemaligen Gaststätte „Zum Kriegsberg“ in der Seestraße 39, die Appelts Bürokollege Emil Maier gehörte. Für die beiden Betreiber dieses Ladens verband sich mit diesem Plan eine lukrative Geschäftsidee. Zwar gab es Unterschiede in der Konzeption der für Juden bestimmten Läden, jedoch herrschte Konsens darüber, dass diese von „arischen“ und politisch zuverlässigen Kaufleuten geführt werden mussten.

In ganz Stuttgart gab es ab dem 7. April 1941 für Juden nur mehr eine einzige Möglichkeit, sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Selbst Fleisch, Milch und Brot fielen ab der nächsten Zuteilungsperiode einen Monat später unter dieses Monopol, das sich Appelt und Maier geschaffen hatten. Anfangs sollten diese Waren noch an anderen Orten erworben werden können. Für die Betroffenen bedeutete dies eine zusätzliche Härte: In vielen Fällen war das Aufsuchen des „Judenladen“ mit weiten Wegen verbunden. Erschwerend wirkte sich dazu noch aus, dass den Juden später auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel verboten war.

Nicht einmal Juden, die zum Arbeitseinsatz verpflichtet worden waren, wurde es gestattet, sich Verpflegung für den laufenden Tag an anderen Orten zu beschaffen. Alfred Marx, der Leiter der jüdischen Mittelstelle – sie war für die Verteilung der Lebensmittelkarten in der jüdischen Gemeinde zuständig – bemerkte einmal, dass nach seinem Wissen keine andere deutsche Stadt eine so restriktive Regelung auf diesem Sektor eingeführt habe. Marx beschwerte sich bereits einen Monat nach Eröffnung des „Judenladens“ beim Sicherheitsdienst (SD) der SS über das dürftige Warenangebot, die ungünstigen Öffnungszeiten und die offenbar dubiosen Verkaufspraktiken der Betreiber. Zum Vergleich: In Berlin, Dresden, Köln und Mannheim hatten Juden Zugang zu allen Geschäften, wenn auch nur zu bestimmten Zeiten, in Breslau, Frankfurt am Main, Karlsruhe, Nürnberg und München bestanden eigene Geschäfte unter der Leitung zuverlässiger NSDAP-Gefolgsleute. Sogenannte Sonderverkaufsstellen wie in Stuttgart gab es noch in Hamburg, Kassel und Leipzig.

Als wegen der fortlaufenden Deportationen die Zahl der Juden in Stuttgart und dadurch auch die Zahl der Käufer in der Seestraße sank, griffen Appelt und Maier zu einem brutalen Mittel, um ihr Defizit auszugleichen. Sie zwangen die Jüdische Gemeinde, den Fehlbetrag durch eine Sonderumlage auszugleichen, ohne dass es dafür irgendeine Gegenleistung gab. Andernfalls, so die Drohung der beiden, würde die jüdische Bevölkerung völlig von der Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Zudem beschnitten sie oft eigenmächtig die Rationen ihrer Kunden und erzwangen „Kompensationsgeschäfte“, das heißt ein Käufer bekam die ihm zustehende Ware nur, wenn er zugleich eine Ware kaufte, die zufällig reichlich vorhanden war. Auch die Zerstörung des Ladens in der Seestraße bei einem Bombenangriff im Juli 1944 stoppte diese Geschäftspraktiken nicht. Unmittelbar danach wurde eine neue Sonderverkaufsstelle in der Hospitalstraße eröffnet – wieder unter Appelt und Maier. Für ihre perfide Geschäftsidee wurden sie 1946 zu acht bzw. sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Der „Judenladen“ diente auch als Kulisse für eine propagandistisch verfälschte Filmsequenz, die die Stadt im Rahmen einer „Kriegsfilm-Chronik“ am 14. und 21. November 1941 drehen ließ. Indem volle Regale gezeigt wurden, sollten die Betrachter Glauben gemacht werden, dass die Juden in Stuttgart gut versorgt würden – eine traurige Einmaligkeit im Deutschen Reich. In dem Filmskript, das im Stuttgarter Stadtarchiv erhalten geblieben ist, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Waren für die Sonderverkaufsstelle täglich frisch geliefert würden. Die Produktionsfirma beklagte sich zudem, dass die Anzahl der Kunden am ersten Drehtag vergleichsweise gering war. Die jüdische Käuferschaft habe durch die Montage der Beleuchtungsanlage von den geplanten Filmaufnahmen erfahren und sich an diesem Tag ferngehalten. Durch einen weiteren Drehtag sei es aber gelungen, die „gewünschten Typenbilder“ zu erhalten. Die Aussage zeigt, dass der diskriminierende Charakter dieser Aufnahmen sowohl den Produzenten des Films als auch den Betroffenen sehr bewusst war. Auch der Propagandagehalt dieser Filmbilder ist eindeutig. Zeitzeugen berichteten nach 1945 von der Realität im „Judenladen“, die von Willkür und Schikanen der Ladenbetreiber, oft langen Warteschlangen und einem dürftigen Warenangebot geprägt war.

Text: Peter Poguntke
Schlagwort: Stuttgart-Nord
Quellenhinweise:

Stadtarchiv Stuttgart 120 Ernährungsamt Bü 400.
Stadtarchiv Stuttgart SO 172 Bericht Alfred Marx.

Literaturhinweise:

Jupp Kiegraf, Der Stuttgarter "Judenladen". Dokumentation eines fast vergessenen Stücks der Stuttgarter Stadtgeschichte, Stuttgart 2007.
Robert Gellately, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, München 2004.
Wolf Gruner, Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen. Zur wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933-1941, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 48 (2000), S. 75-126.
Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, 2 Bde., hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin 1995.
Roland Müller, Stuttgart in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988.

Publiziert am: 24.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Peter Poguntke, Stuttgarter „Judenladen“, publiziert am 24.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
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