Henriette Arendt wurde 1903 in Stuttgart als erste Polizeiassistentin Deutschlands angestellt. Bereits 1908 quittierte sie ihren Dienst, da ihr selbstbewusstes Agieren zu zahlreichen Anfeindungen und Spannungen in der Stadtgesellschaft geführt hatte.

Henriette Arendt stammt aus einer vermögenden jüdisch-assimilierten Familie. Sie war die Tante der 1906 geborenen Philosophin Hannah Arendt. Die Familie konnte es sich leisten, die Tochter mit sechs Jahren auf die Höhere Töchterschule in Königsberg zu schicken. Anschließend besuchte sie die Handelsschule für Höhere Töchter in Berlin, um dort eine Ausbildung zur Buchhalterin zu absolvieren. Nachdem sie ein Jahr im Kontor ihres Vaters gearbeitet hatte, ging sie 1893/94 in Genf auf die École Supérieure. Nach Abschluss des Schuljahres kehrte sie nach Königsberg zurück, um wiederum Sekretariats- und Buchhaltungsaufgaben zu übernehmen.

Ende 1895 begann sie in Berlin am Jüdischen Krankenhaus eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Die mutterhausgebundene Krankenschwesterntätigkeit – die Frauen wohnten gemeinschaftlich in einem vom Dienstherren gestellten Haus – forderte Henriette Arendts Anpassungswillen auf das Äußerste heraus. Aber auch hier begann sich das Spektrum der Möglichkeiten um die Jahrhundertwende bereits zu erweitern, und mit den sogenannten wilden Schwesternvereinen etablierten sich mutterhausfreie und liberale Einrichtungen. 1902 arbeitete Henriette Arendt an der Neuen Lungenheilanstalt in Schömberg im Schwarzwald. Hier schloss sie sich dem Stuttgarter Hilfspflegerinnen-Verband an, der 1899 gegründet worden war und ein modernes Berufs- und Frauenbild vertrat. Henriette Arendts Bildungsweg war einerseits zeit- und schichttypisch, andererseits stieß sie deutlich an die Grenzen ihrer Zeit. Sie sprach Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, war musisch und literarisch gebildet, sie hatte administrative Kenntnisse und eine Ausbildung im Krankenpflegebereich und war selbstbewusst und willensstark genug, ihre Position zu vertreten und Veränderungen herbeizuführen. Der Arbeitsmarkt für ein derartiges Qualifikationsprofil war um die Jahrhundertwende nicht sehr groß. Umso erfreuter war sie, als Paula Steinthal, die Vorsitzende des Stuttgarter Pflegeverbands, sie für die neu geschaffene Stelle der Polizeiassistentin in Stuttgart empfahl und sie im Februar 1903 ihre Stelle im Stuttgarter Polizeiamt in der Büchsenstraße 37 antrat.

Um 1900 vollzog sich der Wandel Stuttgarts von der Residenz- zur Großstadt. Die Bevölkerung wuchs stark an, der Arbeitsmarkt boomte und die modernen Verkehrsmittel fingen an, das Stadtbild zu prägen. Negative Begleiterscheinung dieser Entwicklung waren die auffallend hohen Lebenshaltungskosten und der Mangel an Wohnraum. Die Einstellung einer Polizeiassistentin in Stuttgart ist in Zusammenhang mit der „Sexuellen Frage“ zu sehen, Anlass für die späteren Zerwürfnisse war diese Thematik jedoch nicht. Das Stuttgarter Nachtleben vollzog sich offiziell in der Klosterstraße, hier durften 25 bis 30 Prostituierte straffrei ihrer Tätigkeit nachgehen, nachdem sie sich in die polizeiliche Inskriptionsliste eingetragen hatten und sie sich zweimal wöchentlich im Polizeiamt auf Geschlechtskrankheiten untersuchen ließen. Dieser geringen Zahl von eingeschriebenen Frauen stand eine deutlich größere Zahl von Frauen gegenüber, die als vagierende Prostituierte in der Anonymität der Großstadt für die Polizei, die die Prostitution zu überwachen hatte, nicht mehr eindeutig sichtbar war. Auch in Stuttgart kam es zu Fehlgriffen, bei denen ehrbare Frauen unter dem Verdacht der Prostitution verhaftet und auf die Polizeistation zu einer Zwangsuntersuchung gebracht wurden. Die Einstellung der Stuttgart Polizeiassistentin ist in diesem Kontext zu verorten und stieß weitgehend auf gesellschaftliche Akzeptanz. Die Polizeiassistentin hatte bei den polizeiärztlichen Untersuchungen anwesend zu sein, konnte aber auch ihren Einspruch gegen eine derartige Prozedur geltend machen, um ehrbare Frauen zu schützen. Ebenso sollte sie darauf achten, dass bei Verhören von weiblichen Gefangenen Sitte und Anstand gewahrt wurde.

Die in Schwesterntracht tätige Polizeiassistentin Henriette Arendt weitete ihr Tätigkeitsfeld schnell auf den Bereich Kinderfürsorge und die Betreuung von männlichen Gefangenen unter 18 aus. Hier erlebte sie die Defizite einer sich im Wandel befindlichen sozialen Infrastruktur.

Das Armutsrisiko traf insbesondere arme Familien, wohnungslose Frauen und Kinder. Diese forderten von ihr häufig Hilfe, die sie kaum leisten konnte. Henriette Arendt versuchte, diesen Defiziten aktiv entgegenzutreten, indem sie Vereinsgründungen – dazu gehörte u.a. die „Zufluchtsstätte für schutzbedürftige Mädchen und Frauen“ – vorantrieb und sich eigene Mittel über Spendenaufrufe sowie durch die Veröffentlichung von Büchern und Vorträgen erwirtschaftete.

Am 1. Februar 1907 hielt sie im Gebäude des Landesgewerbemuseums auf Einladung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten einen Vortrag mit dem Titel „Mehr staatliche Fürsorge für Gefallene und Gefährdete. Der beste Weg zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten!“. Darin resümierte Henriette Arendt ihre bisherige Arbeit, bei der sie in den letzten vier Jahren 4266 weibliche Personen bei der Polizei betreut hatte. Dann setzte sie zu einer Generalkritik der bestehenden Einrichtungen an, bewertete das ehrenamtliche System der Wohlfahrtspflege in Stuttgart als ineffizient und beschrieb die amtlichen Kontrolleinrichtungen als bürokratisch und überfordert mit der Fürsorgepflicht.

Mit diesem Vortrag eskalierten die Konflikte um Henriette Arendt. Paula Steinthal kündigte die Mitgliedschaft von Arendt im Hilfspflegerinnenverband und empfahl dem Amtsvorstand der Polizei, sich im Zuge einer ordentlichen Kündigung von seiner Mitarbeiterin zu trennen, um damit das inkorrekte Verhalten der Beamtin zu beenden. Der besoldete Gemeinderat Heinrich Rettich mahnte das Stadtpolizeiamt schriftlich an, dass die permanente sozialreformerische Kritik, die Henriette Arendt an der bestehenden Gesellschaft übte, unterbunden werden müsse. Der Leiter der Stadtmission, der spätere Landesbischof Theophil Wurm, reagierte öffentlichkeitswirksam mit Verbitterung auf die publizistische Tätigkeit der Polizeiassistentin und forderte die Kündigung derselben. Die Honoratiorenfrauen in Vertretung von Paula von Göz wiederum griffen die Vorschläge Henriette Arendts auf und forderten u.a. im März 1908 die Stadt auf, eine amtliche Waisenpflegerin einzustellen, die aber die Aufgabe der ehrenamtlich Tätigen ergänzen und nicht ersetzen sollte. Karl Wurster, der Amtsvorstand der Stuttgarter Stadtpolizei, geriet zunehmend unter Druck.

Während Henriette Arendt ihre Berufsrolle als individuelles emanzipatorisches Konzept interpretierte, war das Interesse des Stadtpolizeiamtes ein diametral entgegengesetztes. Die Ein- und Unterordnung in den bürokratischen Apparat war von funktionaler Bedeutung für die Behörde. Die Stadtpolizei tolerierte das Vorgehen der Polizeiassistentin, solange ihre Lösungsmuster nicht in Konflikt mit anderen für die Stadtgesellschaft wichtigen Akteuren gerieten und die Stadtpolizei nicht selbst im Zentrum der Kritik stand. Nun wurden zahlreiche Untersuchungen eingeleitet, um sie zu disziplinieren und ihr beruflich öffentliches Agieren wieder in den geordneten bürokratischen Rahmen zu bringen. Henriette Arendt war jedoch nicht bereit, Korrekturen und Eingriffe in ihre Arbeit zu akzeptieren. Daraufhin versuchte die Behörde, das Arbeitsverhältnis begründet aufzulösen. Ihr Verhalten in ökonomischen Dingen wurde hierbei ebenso hinterfragt (Kriminalisierung), wie eine Beziehung zu einem Beamten des Stadtpolizeiamtes (Sexualisierung). Die Polizeiassistentin meldete sich schließlich zermürbt krank und schrieb am 18. November 1908 im Stuttgarter Paulinenhospital ihre Kündigung.

Im August 1910 veröffentlichte Henriette Arendt ihr Buch „Erlebnisse einer Polizeiassistentin“, worin sie selbstbewusst ihre Sicht der Ereignisse schilderte. Die lokalen Stuttgarter Zeitungen griffen die Thematik auf und die Stadtverwaltung, die sich erst nicht äußern wollte, sah sich genötigt, am 18. August eine Pressekonferenz abzuhalten.

Im Stadtpolizeiamt selbst wurden die Aufgaben der Polizeiassistentin von einem Fahnder und der Frau des Gefängniswärters übernommen, was auch von Seiten der liberalen Stuttgarter Frauenbewegung kritisiert wurde. In der Stuttgarter Stadtverwaltung verhielt man sich aufgrund der gemachten Erfahrungen äußerst defensiv bei der Einstellung weiterer Frauen in diesem Bereich. Die mediale Wirkung der Auseinandersetzung wirkte – so empfand es u.a. Martha Ringel, die erste Dresdner Polizeiassistentin – als Kollektivstrafe, die es den Frauen erschwerte, sich beruflich zu etablieren.

Im Februar 1916 wurde der Film „Kleine weisse Sklaven“ in Stuttgart gezeigt. Die Behörde war besorgt, dass die ehemalige Polizeiassistentin aus diesem Anlass nach Stuttgart kommen würde. Nach ihrem Weggang aus Stuttgart hatte sich Henriette Arendt neben einer umfangreichen Vortragstätigkeit dem Thema Kinderhandel verschrieben und ein gleichnamiges Buch veröffentlicht, das bereits 1914 verfilmt worden war. Seit ihrer Rückkehr aus England ließ man sie polizeilich überwachen. Ihre dortige Vortragsreise wurde durch den Beginn des Ersten Weltkrieges, geplant war eine Weiterreise in die USA, abrupt beendet. Sie wurde als feindliche Ausländerin verhaftet, weder die Scheinheirat mit dem entfernten französischen Verwandten René de Matringe noch der Schweizer Domizilschein ermöglichten ihr den Verbleib in England. Sie wurde am 28. Mai 1915 aus England ausgewiesen. Nach kurzen Aufenthalten in der Schweiz und Budapest wurde sie im März 1916 aus Wien abgeschoben, da die Königlich Württembergische Landespolizei einen Überwachungsantrag an die Wiener Polizei gestellt hatte. Das von ihr geforderte Frauenwahlrecht erlebte sie noch, und im Mai 1919 setzte sie ihre Hoffnung auf eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse in eine sozialistische Regierung. Am 22. August 1922 starb sie einsam in Mainz, wo sie zuletzt als Oberschwester der französischen Rheinarmee gearbeitet hatte.

Text: Heike Maier
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Henriette Arendt, Kleine weisse Sklaven, Berlin o.J.
Henriette Arendt, Menschen, die den Pfad verloren, Stuttgart 1907.
Henriette Arendt, Mehr staatliche Fürsorge für Gefallene und Gefährdete. Der beste Weg zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten !, Stuttgart 1908.
Henriette Arendt, Erlebnisse einer Polizeiassistentin, München 1910.

Staatsarchiv Ludwigsburg F 801 Bü 26.
Staatsarchiv Ludwigsburg F 201 Bü 97.

Literaturhinweise:


Dirk Götting, Das Aufbegehren der bürgerlichen Frauenbewegung gegen die Sittenpolizei des Kaiserreichs und der erste Versuch weiblicher Polizei in Deutschland (1875-1914). Frauen im Polizeidienst zwischen „Rettungsarbeit“ und „Sittenschnüffelei“ (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V., Bd. 9), Frankfurt 2010.
Heike Maier, „Taktlos, unweiblich und preußisch“. Henriette Arendt, die erste Polizeiassistentin (1903-1908). Eine Mikrostudie, Stuttgart 1998.
Mascha Riepl-Schmidt, Henriette Arendt. Die erste Polizeiassistentin Stuttgarts, in: Wider das verkochte und verbügelte Leben. Frauenemanzipation in Stuttgart seit 1800, Stuttgart 1990, S. 198-212.
Henrike Sappok-Laue, Henriette Arendt. Krankenschwester, Frauenrechtlerin, Sozialreformerin, Frankfurt 2015.

GND-Identifier: 120727692
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Heike Maier, Henriette Arendt (1874-1922), publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/a9421d0e-e9c3-45ff-b37b-799203a2e2b3/Henriette_Arendt_%281874-1922%29.html