Der ehemalige Sekretär Gustav Stresemanns, Henry Bernhard, war 1945 bis 1960 zunächst Herausgeber der Stuttgarter Zeitung und später der Stuttgarter Nachrichten. Zudem wirkte er in Stuttgart als Landtagsabgeordneter und Vorkämpfer eines geeinten Europas.

Der am 1. Januar 1896 in Dresden geborene Henry Bernhard entstammte einfachen Verhältnissen, weshalb ihm ein höherer Schulabschluss verwehrt blieb. Durch einen glücklichen Zufall lernte er jedoch 1911 Rudolph Schneider (1876-1933), den Syndikus des Reichsverbandes der Industriellen, kennen, der Bernhard in seine Dienste nahm, eine Bürolehre ermöglichte und gezielt förderte. Durch Schneider kam auch der Kontakt Bernhards zu Gustav Stresemann (1878-1929) zustande, für den er 1915/16 erstmals arbeitete. Nach der Einberufung in den Ersten Weltkrieg 1916 bis 1918 und einer Tätigkeit in der Geschäftsleitung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie 1919 bis 1923 avancierte Bernhard 1923 endgültig zum persönlichen Sekretär und Büroleiter von Reichskanzler bzw. Außenminister Stresemann, dessen nachgelassene Papiere schließlich durch Bernhard publiziert wurden.

In den Jahren 1933 bis 1938 führte Bernhard ein Zeitungsausschnittbüro in Berlin, bevor er vom Reichspropagandaministerium gezwungen wurde, diese Tätigkeit aufzugeben. Nunmehr nahm Bernhard 1939 bewusst eine Stelle weit weg von Berlin in der Werbeabteilung der Daimler-Benz AG an. Die Jahre bis 1945 waren für Bernhard in Stuttgart in mehrfacher Hinsicht unerfreulich: Während des ersten Kriegsjahres wurde er zum Wehrdienst eingezogen, außerdem erkrankte er 1943/44 überaus schwer an der Bauchspeicheldrüse, sodass er sich in Herrenberg einer Operation unterziehen musste. Ebenfalls im Jahr 1944 wurde sein Haus in Stuttgart-Obertürkheim während eines Bombenangriffs beschädigt. Schließlich gestaltete sich auch die Situation bei Daimler für Bernhard angespannt: Als ehemaliger Vertrauter Stresemanns und Mitglied einer Freimaurerloge sah sich Bernhard wiederholt Denunziationen ausgesetzt.

Nach dem Ende der NS-Diktatur konnte Bernhard jedoch gleich auf vier Ebenen wieder Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Leben in Stuttgart nehmen. So war er erstens Mitbegründer und 1948 bis 1950 Meister vom Stuhl der Johannisloge „Furchtlos und treu“. Zweitens wurde Bernhard zu einem der Gründerväter der südwestdeutschen Demokratie: Für die Demokratische Volkspartei, Vorgänger der FDP, gehörte er zwischen 1946 und 1950 zunächst der Vorläufigen Volksvertretung sowie anschließend der Verfassunggebenden Landesversammlung und dem ersten Landtag von Württemberg-Baden an. Zuletzt stand er 1949/50 als einer der Vizepräsidenten an der Spitze des Hauses.

Drittens betätigte sich Bernhard journalistisch als Gründungsherausgeber der Stuttgarter Zeitung und später der Stuttgarter Nachrichten. Gemäß der pressepolitischen Konzeption der Siegermächte sollte es in Deutschland keine Parteizeitungen mehr geben. Vielmehr sollten die von den Amerikanern seit dem Spätsommer 1945 lizenzierten Organe durch Vertreter aller vor Ort relevanter politischer Strömungen herausgegeben werden. Dies führte dazu, dass Bernhard seit dem 17. September 1945 als liberaler Politiker die Stuttgarter Zeitung gemeinsam mit Karl Ackermann (1908-1996), KPD, und Josef Eberle (1901-1986) als Vertrauensmann der SPD herausgab.

Zwar konnte die Stuttgarter Zeitung damals mit einer Auflage von zunächst 400.000 Exemplaren erscheinen. Gleichwohl sahen sich Bernhard und seine Mitherausgeber vor eine Fülle von Schwierigkeiten gestellt. Infolge Papiermangels erschien das Blatt lediglich zweimal die Woche mit in der Regel nur vier bis sechs Seiten. Dabei durfte eine Achtelseite für Werbung verwandt werden. Zudem griffen die Amerikaner stark in die Redaktionstätigkeit ein. Agenturmeldungen durften anfänglich nicht bearbeitet werden, auch konnten Bernhard und seine Kollegen nur mit Mühe durchsetzen, dass Leitartikel entsprechend der deutschen Pressetradition auf der Titelseite platziert wurden. Gerne hätten die Amerikaner dort ausschließlich Mitteilungen gesehen.

Schließlich ergaben sich aus den unterschiedlichen parteipolitischen Standpunkten der Herausgeber schwere Auseinandersetzungen. So idealisierten Ackermann und der kommunistische Politikredakteur Willi Bohn (1900-1995) die Sowjetunion und empfahlen sämtliche Entwicklungen in der sowjetischen Besatzungszone als nachahmenswert. Dies stieß auf den Widerspruch des liberalen Bernhard, der in der späteren DDR nur den Zwang zu geistiger Uniformität erkennen konnte. Auch warf Bernhard Ackermann vor, die Redaktion für Parteipolitik zu missbrauchen. Angesichts dieser Spannungen innerhalb der Redaktion der Stuttgarter Zeitung entschlossen sich die Amerikaner, diese teilweise neu zu besetzen: Die Stuttgarter Zeitung wurde ab Herbst 1946 durch Erich Schairer (1887-1956), Franz Karl Maier (1910-1984) und den erwähnten Eberle herausgegeben. Bernhard übernahm im Gegenzug zusammen mit dem Sozialdemokraten Erwin Schöttle (1899-1976) und Otto Färber (1892-1993) von der CDU die Lizenz für die neu geschaffenen Stuttgarter Nachrichten.

Auch innerhalb der Redaktion der Stuttgarter Nachrichten bestand zwischen Bernhard und Färber ein Konkurrenzverhältnis, vor allem aber mussten sich die Stuttgarter Nachrichten als jüngere Zeitung auf dem lokalen Markt behaupten. Gleichwohl brachte es das Blatt bereits 1949 auf eine Auflage von 137.000 Exemplaren und vier Ausgaben in der Woche.

Inhaltlich deckte die Stuttgarter Zeitung nunmehr stärker das politisch linke Spektrum ab, wogegen Bernhard und seine beiden Kollegen einen gemäßigt konservativen Kurs fuhren. Überaus deutlich wurden die Unterschiede zwischen beiden Blättern in der Auseinandersetzung über das Thema Entnazifizierung, die als Kontroverse „Maier gegen Maier“ bekannt geworden ist: Franz Karl Maier, Mitherausgeber der Stuttgarter Zeitung und Ankläger bei der Stuttgarter Spruchkammer, erhob Klage gegen Ministerpräsident Reinhold Maier (1889-1971) und Kultminister Wilhelm Simpfendörfer (1888-1973), weil diese 1933 als Abgeordnete dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatten. Franz Karl Maier kritisierte dabei vor allem, dass viele kleine Beamte und Angestellte überaus hart belangt wurden, während Reinhold Maier und Simpfendörfer wieder in verantwortliche Positionen aufrückten. Dabei hätten sie durch ihre Zustimmung viele einfache Menschen erst zum Parteieintritt animiert. Während das Spruchverfahren gegen den Ministerpräsidenten zu keinen Konsequenzen führte, musste Simpfendörfer aufgrund der Veröffentlichung eines Aufrufs zur Wahl Hitlers aus dem Jahr 1936 zurücktreten.

Bernhard und die Stuttgarter Nachrichten sind Franz Karl Maier entschieden entgegengetreten. Wenngleich Bernhard den Aufruf Simpfendörfers keineswegs billigte, so warf er Franz Karl Maier vor, nur aus Sensationsgier zu handeln, verbunden mit dem Ziel, die Auflage der Stuttgarter Zeitung steigern zu wollen. Seinerseits riet Bernhard zu Ruhe und Besonnenheit, auch lehnte er, wie er es in einem Artikel der Stuttgarter Nachrichten vom 29. März 1947 formulierte, das „Wühlen in alten Zeitschriften, Bänden und Büchern“ ab.

Während Franz Karl Maier zu dem Schluss kam, die Deutschen seien an der ihnen in Form der Entnazifizierungsverfahren gestellten Aufgabe gescheitert, kritisierte Bernhard die seiner Meinung nach zu schematischen Entnazifizierungsverfahren. Er sah in der Mehrzahl seiner Mitbürger politisch unreife Menschen, die durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise traumatisiert und letztlich durch die von der Großindustrie finanzierten Nationalsozialisten und die Militärs verführt worden seien. Aus politischer Unreife habe sich das deutsche Volk Militarismus und eine expansive Außenpolitik aufzwingen lassen. In diesem Sinne lehnte Bernhard eine Kollektivschuld der Deutschen ab und trat zugleich für eine Schonung vieler kleiner Mitläufer ein, die dem Aufbauprozess nicht entzogen werden dürften. Im Gegenzug wünschte er freilich eine harte Bestrafung der Hauptschuldigen.

Auch bei der Bewertung der Regierungspolitik ergaben sich markante Unterschiede zwischen Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten. Die Stuttgarter Zeitung verurteilte Ende 1946 die Bildung einer Allparteienregierung als politischen „Kuhhandel“, bei dem sich die Parteien wechselseitig Posten zuschieben würden. Dagegen begrüßte Bernhard angesichts der schwerwiegenden Probleme der Nachkriegszeit das gemeinsame Handeln aller Parteien.

Schließlich wandte sich die Stuttgarter Zeitung vor allem Fragen der Sozialpolitik zu, im Fokus der Stuttgarter Nachrichten stand dagegen die Außenpolitik. So veröffentlichte Bernhard eine Schriftenreihe der Stuttgarter Nachrichten „Werdendes Europa“, in deren Rahmen er sich – und dies ist sein viertes Betätigungsfeld in Stuttgart – für die Schaffung eines vereinten Europas einsetzte. Zudem war Bernhard seit 1947 Vorsitzender der „Europäischen Aktion. Landesverband Württemberg-Baden“, genauso wie er sich im Süddeutschen Rundfunk mehrfach zur europäischen Einigung zu Wort meldete. Den Schlüssel für ein gemeinsames Europa bildete für ihn der Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich. Das Fernziel müsse die Beseitigung von Handelshemmnissen zwischen beiden Ländern und in Europa insgesamt darstellen. Gleichzeitig plädierte er für die Schaffung einer europäischen Währungsunion.

Von einem vereinten Europa versprach sich Bernhard eine Stärkung Deutschlands, vor allem erhoffte er zukünftig den Wegfall von Demontagen. Zugleich rief er seinen Landsleuten zu, dass sie auf nationales Prestigedenken verzichten müssten. Ferner forderte er ein Verbot für die Fertigung von Produkten für die militärische Rüstung in Deutschland. Ja selbst zivile Güter, die für Rüstungszwecke entfremdet werden könnten, sollte es in Deutschland nicht mehr geben. Genauso sollte im Erziehungswesen an die Stelle der bisher gepflegten nationalistischen Erziehung die Heranführung zur Friedensliebe treten. Sowohl die Wirtschaft wie auch die Universitäten sollten nach Bernhard unter internationale Aufsicht gestellt werden. Die Kontrolle der deutschen Rüstungswirtschaft sollte nach Bernhard zum Ausgangspunkt für eine allgemeine umfassende Abrüstung werden.

Das Engagement auf derart vielen Feldern, zumal Bernhard auch dem Rundfunkrat des Süddeutschen Rundfunks angehörte und sich seit 1955 noch im Personalgutachterausschuss der Bundeswehr betätigte, forderte seinen Tribut. Bernhard litt bereits länger an Diabetes, am 9. März 1960 verstarb er überraschend an den Folgen einer plötzlichen Darmlähmung.

Text: Michael Kitzing
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Henry Bernhard (Hg.), Gustav Stresemann – Vermächtnis: der Nachlass in drei Bänden, Berlin 1932/33.
Henry Bernhard, Werdendes Europa, Hamburg 1947.
Stadtarchiv Stuttgart 2111 Nachlass Henry Bernhard.

Literaturhinweise:

Marianne Bernhard, Henry Bernhard: 1. Januar 1896 - 9. März 1960, Stuttgart 1996.
Rainer Braun, Friedrich Christian Henry Bernhard: Journalist und Politiker, in: Gelebte Utopie. Auf den Spuren der Freimaurer in Württemberg: Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearbeitet von Albrecht Ernst und Regina Grünert, Stuttgart 2017, S. 150-151.
Helmut Cron, Stuttgarter Zeitungs-Chronik 1945, Stuttgart 1979.
Michael Kitzing, Bernhard, Friedrich Christian Henry: Herausgeber und Chefredakteur, MdL FDP/DVP (Württemberg-Baden), Landtagsvizepräsident, in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 5, hg. im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg von Fred Ludwig Sepaintner, Stuttgart 2013, S. 26-30.
Michael Kitzing, Henry Bernhard (1896-1960): vom Assistenten Stresemanns zum Zeitungsgründer, FDP-Politiker und Pan-Europäer, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 26 (2014), S. 319-344.
Stefan Kursawe, Politische Kommentare bei Radio Stuttgart und in der Stuttgarter Tagespresse 1945-1947, Magisterarbeit Universität Mannheim, 1996.
Edgar Lersch, „Radio Stuttgart“ und die Stuttgarter Tagespresse, in: Edgar Lersch/Heinz H. Poker/Paul Sauer (Hg.), Stuttgart in den ersten Nachkriegsjahren, Stuttgart 1995, S. 443-477.

GND-Identifier: 116146184
Publiziert am: 08.09.2022
Empfohlene Zitierweise:
Michael Kitzing, Henry Bernhard (1896-1960), publiziert am 08.09.2022 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/a75f71e2-904e-45a6-a58c-62b8acedf1f1/Henry_Bernhard_%281896-1960%29.html