1956 wurde die Neue Liederhalle in Stuttgart nach einer Bauzeit von eineinhalb Jahren als „Europas größte und modernste Konzerthalle“ feierlich eingeweiht. Sie gilt heute mit ihrer modernen Gesamtkonzeption als bedeutsames Werk des Wiederaufbaus.

Der Stuttgarter Liederkranz – eine Sängergesellschaft mit ursprünglich nur 80 Mitgliedern – besaß nach seiner Gründung 1824 zunächst kein eigenes Gebäude. Erst im Jahre 1864 bekam Baumeister Oberbaurat Christian Friedrich von Leins (1814-1892) den Direktauftrag für den ersten und 1874/75 für den zweiten Bauabschnitt der alten Liederhalle. Der im italienischen Renaissancestil ausgeführte Bau avancierte binnen weniger Jahrzehnte zum Treffpunkt des Bürgertums und hatte einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert.

Nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, 1943, stellte sich die Frage eines Wiederaufbaus. Die Zentrale für den Aufbau der Stadt (ZAS), ein den städtischen Behörden übergeordnetes Zentralamt für den Wiederaufbau, wurde 1946 mit Richard Döcker als Leiter und Walther Hoss als stellvertretendem Leiter eingerichtet. Grundsätzlich war der ZAS-Beirat auch mit dem Neubau einer Neuen Liederhalle und seiner Orientierung zur Schlossstraße hin einverstanden. Doch zu diesem Zeitpunkt lag für dieses Gebiet noch kein rechtsgültig ausgearbeiteter Bebauungsplan vor.

Ein planvoller Wiederaufbau des Gebiets entwickelte sich erst ab 1948. Vordringlich war der Wohnungsbau, die Entwicklung von Industriegebieten, der Ausbau des Stuttgarter Hafens und die Verkehrssanierung. Erst 1949 schrieb dann der Stuttgarter Liederkranz zu seinem 125-jährigen Bestehen einen Wettbewerb „zur Erlangung von Vorentwürfen für die neue Liederhalle in Stuttgart als Konzert- und Tagungshaus“ aus.

Sechs namhafte Architekten aus Berlin, München und Stuttgart wurden eingeladen. Aus dem Wettbewerb gingen die Architektengemeinschaft Professor Dr.-Ing. e.h. Adolf Abel (1882-1968) aus München mit Professor Rolf Gutbrod (1910-1999) aus Stuttgart und Professor Dr. e.h. Hans Scharoun (1893-1972) aus Berlin als die ersten beiden Preisträger hervor und wurden zur Überarbeitung aufgefordert.

Der zunächst von der Stadtverwaltung Stuttgart favorisierte Wettbewerbsentwurf von Scharoun wurde dann jedoch nicht weiterverfolgt. So schrieb Generalbaudirektor Professor Walther Hoss, städtischer Beigeordneter und Leiter der ZAS, an den Oberbürgermeister Dr. Arnulf Klett: „Die Arbeit von Professor Scharoun ist für den Liederkranz ‚zu eigenartig‘. […] Der Liederkranz (Hochstetter und Schurr) hat sich eindeutig für Professor Abel entschieden […] und nicht für Scharoun.“ Nach vielfältigen Überlegungen zum Raumprogramm und zur Arrondierung des Grundstücks wurde die Architektengemeinschaft Abel/Gutbrod im Jahr 1954 mit dem Bau der Neuen Liederhalle beauftragt.

Das Projekt der Neuen Liederhalle brachte eine Neudefinition des Stadtraums mit sich: Stand die alte Liederhalle in der gründerzeitlichen Stadt inmitten eines engen Straßenrasters in einem dicht bebauten Gebiet, befand sie sich nun am zurückverlegten Rand der Innenstadt als Solitär in einer offenen „Stadtlandschaft“. Hier waren die Voraussetzungen für eine räumlich freie Entfaltung der neuen Baukörper mit einem Vorplatz an der aufgelassenen Büchsenstraße gegeben. Nach Abschluss der Grundstücksverträge zwischen der Stadt Stuttgart, dem Stuttgarter Liederkranz sowie der Robert Bosch GmbH konnten am 3. Januar 1955 die Bauarbeiten beginnen. Das Gebäude wurde auf das Gelände der alten Liederhalle in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt, am Rande des Hochschulgebiets, errichtet, das von der Stadtverwaltung als künftiges Kulturzentrum betrachtet wurde. Durch die zentrale Lage ist es verkehrstechnisch mit allen wichtigen Punkten der Stadt verbunden.

Die Neue Liederhalle, bestehend aus einem mehrgliedrigen Gesamtkomplex, zeigt im Vergleich zu anderen Konzerthallen beinahe eine vollständige Loslösung von traditionellen Vorbildern. Sie vereint drei unterschiedliche Konzertgebäudetypen (Hufeisen-, Arena- und Quadersaalform) mit eigenem Charakter und unterschiedlichen Qualitäten. Sie ist ein frei stehendes skulpturales Bauensemble, das als dynamische Baugruppe definiert ist und deren Teile in einem besonderen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Die Bewegung um eine gemeinsame Mitte lässt – visionäre Gedanken des Neuen Bauens aus den 1920er Jahren reflektierend – die unterschiedlich ausgeformten Räume zu einem Ganzen werden.

Nach den Vorstellungen der Architekten sollten Klang- und Raumerlebnis in der Neuen Liederhalle eine Symbiose eingehen, fernab aller Architekturmodi der tradierten Konzerthausarchitektur. Nicht von ungefähr wurde die Neue Liederhalle aufgrund ihrer Gestalt im Volksmund als „Volksliedbunker“, „Kultursilo“ oder „Schwartenmagen“ bezeichnet; vor allem das Fehlen der Fassade irritierte die klassische Vorstellung von einem Konzertgebäude.

Neu waren auch die Saalformen, die von außen ablesbar waren, ohne dem Prinzip der Symmetrie zu folgen; ebenso die künstlerische Gestaltung als integraler Bestandteil der Architektur. Diese war nicht bloß „Kunst am Bau“. Es ging vielmehr um die künstlerische Gestaltung, um eine Synthese der gegenseitigen Steigerung von Raum- und Flächenkunst, außen wie innen, von Künstlern und Architekten gemeinsam entwickelt. Die Materialien sind naturbelassen und bieten die Möglichkeit einer sinnlichen Wahrnehmung von architektonischer Atmosphäre. Die Denkmalpflege erkannte diese Qualitäten früh. Bereits 1987 kennzeichnete Eberhardt Grunsky die Denkmalbedeutung des Gebäudes als etwas Außergewöhnliches, völlig Individuelles und sah in der Neuen Liederhalle von der Großform bis ins Detail hinein ein künstlerisches Unikat.

Adolf Abel und Rolf Gutbrod beteiligten von Beginn an zahlreiche Künstler und Bildhauer am Entwurfsprozess; allen voran den Baumeister und Bildhauer Blasius Spreng aus München, den Abel aus früheren Projektgemeinschaften kannte. Nach seinen Entwürfen entstanden die Kleinmosaiken an den Fassaden, auf dem Vorplatz, im Außen- und Innenraum und die gestaltprägenden Fassaden des Mozart-Saals. Das schmückende Bodengroßmosaik vor dem Haupteingang hat die Zeiten nicht überdauert. Es wurde bereits 1968, wenige Jahre nach der Eröffnung der Neuen Liederhalle, wieder entfernt. Grund dafür war die Tatsache, dass wiederholt Damen mit ihren Stöckelabsätzen in den Zwischenräumen hängenblieben. Diese Zwischenräume verursachten auch Frostschäden. Im Jahre 1995 wurden die 100 mal 50 Zentimeter großen Mosaiken als Quader im Materiallager des Hochbauamtes an der Rümelinstraße wiederentdeckt.

Neben Blasius Spreng – der die künstlerische Oberleitung innehatte – sind weitere Künstler zu nennen, die am Bau beteiligt waren, darunter Hans Dieter Bohnet, Franz Eska, Otto Herbert Hajek, Lotte Hofmann, Alfred Lörcher, Hanns Model, Eckart Mosny und Fritz Nuss. Ihre Kunst lässt sich in allen Bereichen finden, angefangen von den bunten Mosaikfeldern im Boden bis zu den wandfüllenden Intarsien und großflächigen Natursteinverkleidungen an der Außenfassade des Mozart-Saals.

Die Neue Liederhalle ist einer der wenigen mit besonderer Konsequenz ausgeführten Bauten, bei denen von Projektbeginn an nicht allein die Lösung technisch-konstruktiver und funktionaler Details angestrebt wurde, sondern eine lebendige Synthese aus Architektur und Kunst. Jeder Gebäudeteil hat seine eigene Formensprache: Innen- und Außenraum sollen die Sinne der Besucher inspirieren, die Säle hierbei nicht nur Klangkörper für die Musik sein, sondern durch Ästhetik in der Materialität auch die optische Stimulanz bewirken. Alle Gebäudeteile bilden eine Komposition, die das komplexe Bauwerk als eine gebaute Sinfonie aus Farben, Formen und Materialien versteht.

Die individuelle und freie Gestaltung der Neuen Liederhalle war eine Gegenposition zur konservativen Architektur, wie sie die Stuttgarter Schule um Paul Bonatz repräsentierte. Bonatz hatte sich mit einer Idee am Projekt der Liederhalle beteiligt, die vor allem die Standortfrage betraf. Gleichzeitig wurden – unter Rückgriff auf den frühen Expressionismus der 1920er Jahre – neue technische Lösungen und auch eine neue Formensprache gefunden, um einen festlichen Profanbau ganz aus dem Geiste der (Nachkriegs-)Zeit heraus zu entwickeln. Der Verzicht auf Symmetrieachsen und Einschachtelungen wirkte später vorbildhaft für den Bau anderer Konzertgebäude.

Die Neue Liederhalle nahm von Beginn an eine Ausnahmestellung unter den Konzerthallenbauten weltweit ein und wurde eines ihrer wichtigsten baulichen Zeugnisse nach 1945 in der Bundesrepublik. Unter akustischen Aspekten betrachtet steht die Liederhalle als Konzerthaus in einer Reihe mit den bekanntesten Konzerthäusern der Welt.

Die Liederhalle ist damit nicht nur eine Konzerthalle für ein elitäres Publikum, sondern Kommunikationsort und Begegnungsstätte von Stadt und Region. So erfüllte sich früh, was zur Einweihung der Neuen Liederhalle am 29. Juli 1956 nur Programm war, nämlich, dass „sie wieder werden sollte, was sie [die alte Liederhalle] war, nämlich Dienerin der Gemeinschaft.“

Bis heute firmiert die Liederhalle in Stuttgart als Kultur- und Kongresszentrum, das später – um den Neubau des Hegel- und Schiller-Saals ergänzt – einen multifunktionalen Charakter bekam. Neben ihr waren bis Mitte der 1950er Jahre als kommunale Signalbauten für den Neuanfang und Aufbruch nach 1945 in Stuttgart nur das Rathaus von Schmohl/Stohrer und der Fernsehturm von Fritz Leonhardt eingeweiht worden. Früher als andere Bauten der Nachkriegszeit wurde die Neue Liederhalle daher zu einem „Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“ ernannt.

Text: Sian Brehler
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Stadtarchiv Stuttgart 17/1 Hauptaktei Gruppe 3 320.
Stadtarchiv Stuttgart 17/1 Hauptaktei Gruppe 3 322.
Stadtarchiv Stuttgart 17/1 Hauptaktei Gruppe 3 326.

Literaturhinweise:

Sian Brehler, Die Neue Liederhalle Stuttgart. Daten und Fakten zur Baugeschichte, Diss. Universität Karlsruhe (Technische Hochschule), Fakultät für Architektur, Karlsruhe 2006.
Eberhard Grunsky, Zur Denkmalbedeutung der Stuttgarter Liederhalle, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, Nachrichtenblatt des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg 16 (1987), S. 91-111, hier S. 103.
Günther Leonhardt, Schilda in Stuttgart. Der ‚optische Kontrapunkt‘ als Gestaltungsmittel, in: Flensburger Tagblatt, 15.08.1956.

Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Sian Brehler, Neue Liederhalle, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/9c97bb82-0fd5-40dd-8311-cca07390f2bf/Neue_Liederhalle.html