Lange Zeit gehörten Scherenschnitt und Schattenriss nicht zum sogenannten Kanon der Künste. Sie galten als mindere Kunstübungen, als Freizeitbeschäftigung oder als weibliches Kunsthandwerk. Eine Vielzahl von Frauen griff seit dem 17. Jahrhundert zu Papier und Schere, da ihnen der Zugang zur Bildung und den Kunstakademien verwehrt wurde. Luise Walther ist ein prominentes Beispiel hierfür.
Als Tochter des Regierungsrats Gustav Freiherr von Breitschwert (1798-1837) wurde Luise Freiin von Breitschwert am 10. Januar 1833 in Ulm geboren. Die Herren von Breitschwert gehörten zu den wenigen eingesessenen Adelsgeschlechtern des alten Herzogtums „Wirtemberg“. Viele Mitglieder der Familie hatten hohe Ämter im Staatsdienst inne. Luise Walthers Vater, der sich im Studium der Mathematik und Naturwissenschaften ausgezeichnet hatte, wurde als Prinzenerzieher an den königlichen Hof nach Stuttgart berufen. Da er jedoch mit 38 Jahren verstarb, zog Luise mit ihren zwei Schwestern und der Mutter Marie, geb. Kielmeyer (1810-1873), zu deren Vater, dem berühmten Naturwissenschaftler Carl Friedrich Kielmeyer (1765-1844), der zunächst als Professor an der Hohen Karlsschule, dann an der Universität Tübingen lehrte. Zuletzt stand er als Direktor dem Stuttgarter Naturalienkabinett vor. Er führte ein stilles Gelehrtenleben in der an das Residenzschloss angeschlossenen Akademie, die in dem Gebäude der ehemaligen Hohen Karlsschule untergebracht war.
Nach dem Tod des Großvaters heiratete ihre Mutter 1845 Karl Wolff (1803-1869), einen verwitweten ehemaligen Pfarrer, der als Rektor die von Königin Katharina von Württemberg (1788-1819) begründete höhere Töchterschule, das Katharinenstift, leitete. Für Luise und ihre Geschwister begann eine rege Zeit geistiger Bildung.
Ihr künstlerisches Talent gründete in ihrer Familie. Ihr Urgroßvater, Felix von Breitschwert, soll der Familienüberlieferung nach um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein geschickter Silhouettenschneider gewesen sein. Ihre Eltern waren gemäß den gesellschaftlichen Konventionen beide Dilettanten in den Künsten: Der Vater übte sich in der Grafik, die Mutter in der Porträtmalerei.
Die vierjährige Luise weinte – wie sie sich 1906 erinnern wird – „bittere Tränen“, weil ihr die Perspektive bei einer Kinderwagenzeichnung nicht gelingen wollte. Mit zehn Jahren begann sie, Profile ihrer Lehrer und Mitschülerinnen durch Auszupfen ihres Fließblättchens, dem Vorläufer des heutigen Löschpapiers, nachzubilden, bis sie endlich zu ihrer Freude eine Schere und schwarzes Papier bekam. Bis ins hohe Alter führte sie stets eine kleine Schere bei sich.
Zwar sammelte ihr Stiefvater ihre Porträtsilhouetten und besuchte mit ihr Persönlichkeiten, um deren Porträt abzunehmen, aber eine künstlerische Ausbildung untersagte er ihr aus Standesdünkel. Daran änderte sich auch nichts, als Luises Vetter Johann Wilhelm Schirmer (1807-1863), Begründer der Düsseldorfer Malerschule und Direktor der Karlsruher Kunstschule, ihre Ausbildung übernehmen wollte. War es zwar ab 1883 Frauen möglich, an der Königlich Württembergischen Kunstschule, der damaligen Akademie in Stuttgart, Malerei zu studieren – Luise Walther war damals fünfzig Jahre alt –, sollte es noch bis zur gesetzlichen Gleichstellung von Mann und Frau 1919 in der Weimarer Republik dauern, bis Frauen offiziellen und umfassenden Zugang zu den Akademien hatten. Bis dahin mussten sie auf Privatateliers, Damenakademien in München und Berlin oder der Malerinnenschule Karlsruhe ausweichen.
Luise verheiratete sich am 13. September 1858 mit dem Justizassessor Franz Walther (1818-1878) und lebte zunächst in Ellwangen. Zwei Jahre später zog das Ehepaar nach Esslingen, Walther wurde zum Kreisgerichtsrat ernannt, bis das Paar 1868 nach Stuttgart kam, wo Walther, der in den persönlichen Adelsstand erhoben wurde, als Obertribunalrat tätig war. Das Paar bekam vier Kinder: Clara Marie Caroline (1859-1931), Marie Luise (1863-1937), Caroline […] Luise (1865-1933) sowie Friedrich Johann Ludwig Gottlieb (1860-1929), der später die Scherenschnitte der Mutter in Buchform bearbeiten sollte.
Luise Walther bezeichnete ihre Scherenschnitte selbst als „häusliche Kunst“ und „Handarbeiten“. Zweierlei schwingt in diesen Bezeichnungen mit: Zum einen erreichen ihre Schnitte, die fast ausschließlich aus Porträtssilhouetten bestehen, tatsächlich nicht den künstlerischen Rang einer Luise Duttenhofer (1776–1829), die eine völlig neue Bildsprache entwickelte. Zum anderen degradierte sie sich selbst zur bloßen Handwerkerin, wie sich ihr Sohn Friedrich 1923 erinnerte. Doch gerade Luise Walthers Kunstfertigkeit, mit der sie ausschließlich und konsequent ihre Zeitgenossen mit der Schere porträtierte – zu einer Zeit, als mit dem Aufkommen der Fotografie 1839 Scherenschnitt und Schattenriss keine Hochphasen mehr erlebten –, ist nur vergleichbar mit der des Berufsilhouetteurs Auguste Edouart (1789–1861).
Bereits ihre ersten Porträtsilhouetten, die sie um die Mitte der 1840er Jahre von ihren Mitschülerinnen im Katharinenstift schnitt, zeugen von großem Geschick und Präzision in der Wiedergabe der Konturlinie. Mit einem scharf beobachtenden Blick erfasste sie das Profil. In den Jahrzehnten ihrer Meisterschaft schnitt sie in wenigen Minuten ganze Tischgesellschaften, ohne dass es bemerkt wurde, da sie ihre Hände scheinbar unbewegt unter dem Tisch hielt und nur von Zeit zu Zeit einen Blick auf ihre „Handarbeit“ warf, wie ihr Sohn zu berichten wusste. Es ist anzunehmen, dass sie, wie Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858) oder Hans Christian Andersen (1805-1875), mit ihrer Kunst auf Abendgesellschaften zur Unterhaltung beitrug.
Luise Walther hatte zweifelsohne eine zeichnerische Begabung, schnitt sie ihre Porträts doch freihändig in das stets doppelt gefaltete Glanzpapier. Sie verwendete keine Apparaturen, wie sie zu Zeiten des Theologen und Physiognomikers Johann Caspar Lavaters (1741-1801) aufkamen.
Die ersten überlieferten Porträtsilhouetten stammen aus dem Jahr 1846, die letzten aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Annährend ein halbes Jahrhundert hat Luise Walther bei jeder Gelegenheit geschnitten: Bei Besuchen, Festen, Konzerten, auf Wohltätigkeitsbasaren, selbst in der Kirche. In vielen ihrer Porträts belebte sie die homogene schwarze Fläche, indem sie sie auf der Rückseite mit Schere, Nadel oder Falzbein modellierte. Haare, Hut und Kleidung versah sie mit Prägelinien und erzielte dadurch eine optische und haptische Wirkung.
Im Schiller-Nationalmuseum des Deutschen Literaturarchivs in Marbach werden sieben Quarthefte verwahrt, deren Seiten mit nur drei bis vier Zentimeter großen Porträtssilhouetten mit Namensbeigaben vollgeklebt sind. Über 3.000 geschnittene Porträts umfassen die Hefte. Hinzu kommen kleinere Bände mit Silhouetten sowie mehrere hundert lose Schnitte in Briefumschlägen, sodass die gesamte Sammlung einschließlich mancher Dubletten um die 4.000 Porträtssilhouetten umfasst. Luise Walthers Sohn Friedrich berichtet, dass seine Mutter Tausende Porträts wegen fehlender Beschriftung der Namen weggeworfen habe.
Das „Who’s Who“ der damaligen württembergischen Gesellschaft – Vertreter der schwäbischen Theologie, Dichter und Schriftsteller, Musiker, Maler und Schauspieler, Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer, Minister und höhere Beamte, Mediziner und Forstleute, der württembergische Adel, alteingesessene schwäbische Geschlechter wie Gmelin, Schwab, Hartmann und so fort – sind neben Gruppen von Lehrerkollegien und Schulklassen, Tanzstunden- und Hochzeitsgesellschaften sowie den Damen der Stuttgarter Wohltätigkeitsbasare versammelt. Luise Walther hinterließ eine beachtliche Silhouettengalerie Württembergs.
Eine langjährige und herzliche Freundschaft verband sie mit Eduard Mörike (1804-1875), der ein Freund ihres Stiefvaters war und seit 1851 wöchentlich im Katharinenstift eine Stunde über deutsche Literatur referierte. Um seinem Freund finanziell weiterzuhelfen, veranstaltete Karl Wolff 1853 Leseabende im kleinen Saal des Oberen Museums, bei denen Mörike aus seinem Manuskript „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“ vorlas. Der Stoff beflügelte die damals zwanzigjährige Luise dermaßen, dass sie sich heimlich beim Verleger Wilhelm Emanuel Schweizerbarth (1785-1870) die Aushängebogen des Manuskripts besorgte und dem Dichter, noch bevor sein Werk gedruckt wurde, ihre 47 Illustrationen zu seinem Märchen überreichen konnte. Es ist ihre einzige Illustrationsarbeit geblieben.
Viele der Illustrationen, die sie selbst als „Merkwürdigkeit aus alter Zeit“ deklarierte und aufgrund der ihr versagten künstlerischen Ausbildung als nicht für die Öffentlichkeit bestimmt hielt, sind eine Kombination aus Scherenschnitt und Federzeichnung. Sie demonstrieren einmal mehr das künstlerische Talent der jungen Frau, die versiert mit Mitteln der Perspektive und Komposition umgehen konnte und stimmungsvolle Bilder schuf.
An die Öffentlichkeit trat Luise Walther erst 1893. Sie vertrat im Frauenpavillon mit vier anderen Künstlerinnen das Königreich Württemberg auf der Weltausstellung in Chicago, indem sie Scherenschnitte präsentierte. Auch auf der ersten Vereinsausstellung 1893 des Württembergischen Malerinnen-Vereines, deren Mitglied sie von 1894 bis 1896 war, war sie vertreten; weiterhin war sie im selben Jahr Mitglied im Verein der Berliner Künstlerinnen. 1894 nahm sie auf der Fächerausstellung des Württembergischen Malerinnen-Vereines teil.
Erhalten geblieben ist in den Sammlungen des Landesmuseums Württemberg ein Elfenbeinfächer mit von Blumen und Pflanzen eingerahmten Dichtersilhouetten, der zwischen 1887 und 1890 entstanden sein muss. Gebrauchsgegenstände mit Scherenschnitten zu dekorieren war bereits im 18. und besonders im 19. Jahrhundert verbreitet. Bereits 1855 versah Luise Walther eine bis heute in Privatbesitz erhalten gebliebene Tischplatte mit Scherenschnittdekor. Das Tischchen war ein Weihnachtsgeschenk für Sophie Gmelin, geb. Bossert (1817-1892), und zeigt eine Tischgesellschaft der untereinander verwandten Familien Gmelin, Wolff, Bossert, Schwab, Hartmann und Klüpfel.
Mit ihren Silhouettenporträts trug Luise Walther maßgeblich zu einer Erinnerungskultur der württembergischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bei. Trotz des familiären Verbots, eine Künstlerinnenlaufbahn einzuschlagen, suchte sie zeitlebens die Künstlerin in sich zu bewahren.