Das 1875 hierher verlegte Gaswerk lieferte rund ein Jahrhundert lang den begehrten Brennstoff. Heute wird das Gas hier nur noch zwischengespeichert und verteilt. Übrig blieb der mehr als 100 Meter hohe, nach wie vor betriebene Gaskessel, eine bedeutende Stuttgarter Landmarke.

Das erste privat betriebene Stuttgarter Gaswerk bestand von 1845 bis 1878 an der Seidenstraße im Stuttgarter Westen. In derartigen Anlagen gewann man in riesigen Retorten aus Kohle den komfortableren, für die leitungsgebundene Energieversorgung geeigneten Brennstoff. Da sich die städtische Bebauung in den 1870er Jahren immer mehr der ungünstig gelegenen Anlage genähert hatte, suchte die Betreibergesellschaft einen neuen Standort – und wurde im östlich gelegenen, damals noch selbstständigen Dorf Gaisburg fündig.

Auf den Teilwiesen, zwischen dem Raitelsberg und dem Neckar, sollte das neue Gaswerk entstehen. Die Lage nahe dem niedrigsten Punkt der damaligen Stuttgarter Markung war günstig: Das leichte Stadtgas stieg von selbst im Leitungsnetz Richtung Innenstadt auf. Außerdem trieben die vorherrschenden westlichen Winde die Abgase von der Residenzstadt weg. Das Werk ging 1875 in Betrieb. Zur vielgliedrigen Anlage gehörten bald insgesamt drei Gaskessel, die – wie damals üblich – ummauert waren.

Gegen Ende ihres Monopolvertrags investierten die Teilhaber der Gasgesellschaft kaum mehr; nachdem die Stadt die Anlage 1899 übernommen hatte, musste sie den Betrieb zwischen 1903 und 1908 grundlegend erneuern. Die Hochbauten entwarf der damalige Stuttgarter Bauinspektor Albert Pantle (1859-1921), ein bedeutender, jedoch oft übersehener Architekt. Als markantestes Bauwerk ragte auch im Wortsinne der Wasserturm hervor, aber auch Kohlen- und Apparatehäuser, Ammoniakfabrik und Verwaltungsbau entstanden nach den abwechslungsreichen Entwürfen Pantles. Nun wurden auch zwei baugleiche Teleskop-Gasbehälter mit einem Fassungsvermögen von je 100.000 Kubikmeter errichtet.

Auch nach dem Ersten Weltkrieg wuchs die Anlage kräftig weiter, bis 1927 waren alle Stadtteile und einige umliegende Gemeinden ans Leitungsnetz angeschlossen. Neben dem Stadtgas produzierte das Werk zunehmend auch andere chemische Grundstoffe. Höhepunkt der Entwicklung war 1928/29 der Bau des großen MAN-Gaskessels, eines Scheibenbehälters mit einem Durchmesser von 69 Metern, einer Höhe von mehr als 100 Metern und einem Fassungsvermögen von 300.000 Kubikmetern. Er ging am 1. August 1929 in Betrieb. In jener Zeit leisteten hier mehr als 450 Gaswerker im Dreischichtbetrieb Schwerstarbeit, über fünf Dutzend Verwaltungsmitarbeiter organisierten die Abläufe. Speziell für die Belegschaft des Gaswerks ließ der Siedlungsverein Groß-Stuttgart zwischen 1921 und 1929 nach Plänen des Architekten Walter Rist die „Gasarbeitersiedlung an der Hackstraße“ errichten, die schließlich 119 Wohnungen umfasste. Zusammen mit der gesamten städtischen Energieversorgung kam auch das Gaisburger Gaswerk zu den 1933 gegründeten Technischen Werken der Stadt Stuttgart (TWS).

Wohl 1938 erhielt der Gaskessel einen Tarnanstrich, den der damals verfemte Oskar Schlemmer entworfen hatte; derlei Aufträge für das Malergeschäft Albrecht Kämmer waren fast die einzige Einnahmequelle des Künstlers. Nachdem es bei einem alliierten Luftangriff am 15. April 1943 im Gaswerk schon erste Treffer gegeben hatte, wurde der große Gaskessel am 21. Februar 1944 schwer beschädigt.

Gleich nach Kriegsende begann der Wiederaufbau des Gaswerks in Gaisburg. Im Zuge des „Wirtschaftswunders“ stieg der Gasverbrauch erheblich. Laufend wurden alte Anlagen abgerissen und durch neue ersetzt. In den 1960er Jahren war zu erkennen, dass Erdgas auf Dauer das (selbst produzierte) Stadtgas verdrängen würde. 1971 nahmen die TWS daher den erdbedeckten Flüssiggasspeicher für 30.000 Kubikmeter verflüssigtes Gas in Betrieb – gasförmig sind dies 17 Millionen Kubikmeter. 1973/74 wurden fast alle Anlagen zur Gaserzeugung endgültig stillgelegt und abgerissen. Ende der 1970er Jahre ließen die Betreiber zwei Kugelbehälter für Flüssiggas errichten, die bis 2009 bestanden.

Im Jahre 1995 wurde dann auch – trotz Protesten – der denkmalgeschützte Teleskopgasbehälter demontiert. So steht heute nur noch der ebenfalls geschützte, stadtbildprägende und identitätsstiftende MAN-Gasbehälter. Er dient als Puffer: In Zeiten geringen Gasverbrauchs, etwa nachts, wird er mit dann preiswertem Gas gefüllt, das bei stärkerem Verbrauch zu etwas höherem Preis verkauft werden kann. Er gilt als der größte noch in Betrieb befindliche derartige Kessel Europas.

Das Gaswerk hat erhebliche Bodenverunreinigungen hinterlassen; in einem langfristig angelegten Programm wird das Gelände seit 2010 saniert. Nach Abschluss der Arbeiten steht die riesige Fläche, immerhin nur durch die B10 vom Neckar getrennt, für neue Nutzungen zur Verfügung.

Text: Ulrich Gohl
Schlagwort: Stuttgart-Ost
Literaturhinweise:

Martin Ehmann, Gaswerk Gaisburg, in: Ulrich Gohl, Made in S-Ost. Produzierende Betriebe im Stuttgarter Osten von den Anfängen bis heute, Stuttgart 2016, S. 65-76.
Ulrich Gohl, Die Stuttgarter Gaskessel, (Stuttgart 2008). [Dokumentation der gleichnamigen Ausstellung im MUSE-O].
Ulrich Klett, Stuttgart und das Gas. Geschichte der Stuttgarter Gasversorgung, Stuttgart 1983.
Landeshauptstadt Stuttgart, Amt für Umweltschutz (Hg.), Gaswerke in Stuttgart. Auswirkungen auf Boden und Grundwasser, Stuttgart 2007.
Harald Zeh, Die Eisenbahn im Gaswerk Stuttgart, Stuttgart 1999.

GND-Identifier: 2106908-6
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Gohl, Gaswerk Gaisburg, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/761dbe6b-f5ad-4294-9097-5101cff17363/Gaswerk_Gaisburg.html