Hans Scharouns Hochhäuser Romeo (1957) und Julia (1959) gelten als herausragende Zeugnisse der Nachkriegsmoderne. Mit dem Hochhausensemble schuf Scharoun einen Ort der Identifikation für die Siedlung Rot. Romeo, turmartig kompakt, und Julia, raumgreifend mit kreisförmigem Grundriss, kontrastieren einander.

Hans Scharouns Hochhäuser Romeo und Julia gelten zweifelsohne als die bekanntesten Gebäude der Siedlung Rot. Seit Ende der 1940er Jahre war im neu entstandenen Siedlungsgebiet in Stuttgart-Zuffenhausen vor allem schlichter Zeilenbau mit einfachen Baumaterialien entstanden. Mit der Errichtung von Genossenschaftswohnungen wollte man zügig der massiven Wohnungsnot begegnen, die das Stadtbild Stuttgarts seit Kriegsende beherrschte. In der Siedlung Rot sollte im Laufe der 1950er Jahre Wohnraum für 20.000 Menschen entstehen.

Mit dem Bau des Hochhausensembles gelang es Scharoun schließlich, eine städtebauliche Dominante zu errichten und dadurch eine feste Ortsbedeutung für die neue Siedlung zu schaffen. Die Hochhäuser in Zuffenhausen waren Scharouns erster Auftrag, der nach Ende des Krieges zur Ausführung kam. Bereits in der Vorkriegszeit hatte sich Scharoun in Stuttgart mit seinem Beitrag zur Weißenhofsiedlung einen Namen gemacht.

Im Gegensatz zu den rasch errichteten Wohnungsbauten der ersten Nachkriegsjahre bedienten Romeo und Julia nun höhere Ansprüche ans Wohnen und setzen den Wunsch nach Komfort und Luxus um. Anlässlich der Einweihung feierte die Stuttgarter Zeitung am 15. September 1959 Romeo und Julia als „Symbole schöpferischen Aufbauwillens“. Die raumgreifende Architektur der Hochhäuser mit ihren experimentellen Grundrissen steht für eine organische Formensprache, die ausgehend von der Funktion des Gebäudes eine entsprechende Form in der Natur sucht, ohne dabei einem geometrischen Muster zu folgen. Scharouns Hochhausensemble zeugt von herausragender architektonischer Qualität und ist mit seiner spezifischen Formensprache wegweisend für den Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne. Unter städtebaulichen Aspekten bildet das Hochhausensemble einen Übergang zwischen Alt-Zuffenhausen und der neuen Siedlung Rot. Julia nimmt mit dem fünfgeschossigen Auftakt die Niedrigbebauung von Alt-Zuffenhausen auf und schraubt sich fließend auf eine Höhe von zwölf Geschossen und leitet dadurch den Übergang zum angrenzenden Hochhaus Romeo ein.

Die Farbgebung und die raumgreifende Fassadengestaltung bilden einen städtebaulichen Akzent, der durch ihre außergewöhnliche architektonische Gestaltung – gerade im Gegensatz zu der umliegenden schlichten Zeilenbebauung – unterstützt wird.

Romeo
Der turmartige Stahlbetonbau Romeo mit neunzehn Geschossen entstand in einer Bauzeit von achtzehn Monaten und wurde im März 1957 fertiggestellt. Scharouns gestalterisches Konzept verzichtet auf rechte Winkel. Die Fassade erzielt durch die spitzwinkeligen Balkons eine asymmetrische Wirkung und widerspricht dadurch den üblichen Sehgewohnheiten. Bei der Konzeption der Wohnungsgrundrisse lag Scharouns Anliegen vor allem in der Vermittlung eines neuen Wohnbewusstseins, das sich im Hochhausbau als zeitgemäßer Form des Wohnens widerspiegeln soll. Scharoun betont eine möglichst individuelle Grundrissgestaltung und entwickelte für Romeo sechs unterschiedliche Wohnungstypen, die den Bedürfnissen der unterschiedlichen Bewohner wie Singles, Paare oder Familien, entsprechen. Um eine ideale Lichtsituation zu erhalten, sind die Wohnzimmer so angelegt, dass zu unterschiedlichen Tageszeiten aus mehreren Richtungen Licht einfallen kann. Die aus dem verwinkelten, asymmetrischen Zuschnitt der einzelnen Zimmer resultierenden Nischen sollten als Schlafnischen beziehungsweise Arbeitsbereiche genutzt werden.

Im Dachgeschoss sind vier Atelierwohnungen angelegt, die durch besonders große Fensterfronten ausgezeichnet sind und Zugang zu einer Dachterrasse haben. Eine dieser Wohnungen ist als Maisonettewohnung angelegt und mit dem darunter liegenden Stockwerk verbunden. Eine andere ist über eine Treppe mit dem sogenannten Turmzimmer verbunden, das als höchster Punkt auf das Dachgeschoss aufgesetzt ist. Eine dieser Atelierwohnungen erwarb Scharoun selbst und bezog sie als Zweitwohnsitz.

Von der Idee geleitet, den Charakter eines Einfamilienhauses bestmöglich in einer Hochhauswohnung widerzuspiegeln, sah Scharouns ursprünglicher Entwurf vor – offenbar unter Bezugnahme auf Le Corbusiers Marseiller Unité d’habitation –, mehrere zweigeschossige Maisonettewohnungen anzulegen. Aufgrund mangelnden Interesses der Käuferschaft musste Scharoun jedoch von diesem Vorhaben absehen. Erst mit dem 1963 fertiggestellten Hochhaus Salute in der Siedlung Fasanenhof sollte das Modell der Maisonettewohnung seriell umgesetzt werden.

Um den Bewohnern einen möglichst großen Wohnkomfort zu bieten, war eine zentrale Ölheizung vorgesehen, die auch für die Heizung und Warmwasserversorgung des 1959 fertiggestellten Laubenganghauses Julia dienen sollte. Besonderen Wert wurde auf eine leistungsfähige Schallisolierung gelegt. Außerdem sollten ein Müllschacht sowie ein Café und Lebensmittelgeschäfte im Erdgeschoss des Gebäudes einen höheren Standard garantieren.

In dem Verbindungstrakt zwischen Romeo und Julia waren als Errungenschaften des modernen Lebens der 1950er Jahre eine Zentralwäscherei und zahlreiche Garagenstellplätze vorgesehen. Eine 3-Zimmerwohnung konnte zu einem Preis von circa 38.000 DM erworben werden. Vergleicht man die Ausstattung, den Wohnkomfort und die Vielzahl der Gemeinschaftseinrichtungen im Hochhaus Romeo mit den schlichten Zeilenbauten in der unmittelbaren Nachbarschaft, wird deutlich, wie sehr der Standard im Wohnungsbau in nur wenigen Jahren gestiegen war. Waren die ersten Wohnungen der Siedlung Rot noch mit Ofenheizungen ausgestattet, gehören nun Zentralheizungen zum Standard ebenso wie Wärme- und Schallisolierung und voll ausgestatte Bäder. Auch in der Möbelausstellung, die kurz nach Fertiggestellung in einer Musterwohnung im Hochhaus Romeo präsentiert wurde, spiegeln sich Wirtschaftswachstum und zunehmender Wohlstand der Bevölkerung wider.

Julia
Zwei Jahre nach Fertigstellung des ersten Hochhauses wurde das Laubenganghaus Julia bezugsfertig. Es fällt besonders durch seine raumgreifende Fassadengestaltung auf und stellt einen Gegenpart zu der turmartigen Architektur Romeos dar. Bereits am 27. Oktober 1955 schrieb die Stuttgarter Zeitung anlässlich der Präsentation des Architekturmodells: „Das Hochhaus ‚Julia‘ ist architektonisch noch eigenwilliger als der zwar imposante, aber doch in gewohnten Bahnen bleibende ‚Romeo‘.“

Scharoun gelingt es, durch den halbkreisförmigen Grundriss und die Fassadengestaltung den Eindruck von Massigkeit und Statik zu reduzieren. Durch die Gliederung der Fassade mit auskragenden, spitzwinkeligen Balkons erreicht er eine Steigerung der Dynamik, die im Kontrast zur Statik des Turmhochhauses Romeo steht.

Sind bei Romeo verschiedene Wohnungen mit variierenden Größen für Singles, Paare oder Familien vorhanden, konzipierte Scharoun im Laubenganghaus Julia familiengerechte Drei- bis Vier-Zimmerwohnungen. Um einen möglichst großen Wohnkomfort auf geringem Raum zu ermöglichen, sah Scharouns Entwurf ursprünglich vor, die „Welt der Kinder“ mit den Kinderschlaf- und -spielzimmern und die „Welt der Erwachsenen“, bestehend aus Wohnzimmer mit Balkon und angegliederter Schlafnische, zu trennen. Die Küche konzipierte Scharoun als verbindendes Element zwischen dem Kinder- und dem Elternbereich. Durch die geschickte Ausnutzung der Nischen des asymmetrischen Grundrisses sollte für jedes Familienmitglied ein individueller Rückzugsraum geschaffen werden. Scharouns ursprüngliche Idee der Trennung der „Welt der Kinder“ von der „Welt der Erwachsenen“ kam jedoch nicht zur Ausführung.

Text: Sophie Kowall
Schlagwort: Stuttgart-Zuffenhausen
Literaturhinweise:

Sophie Kowall: Stuttgart baut auf! Architektur und Stadtplanung der Siedlung Rot (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart, Bd. 109), Stuttgart 2012.

Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Sophie Kowall, Romeo und Julia, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/748bc4af-8772-4cf0-be20-1b1786e9764b/Romeo_und_Julia.html