Fritz Martini, der seine Karriere während des Nationalsozialismus begann, wurde nach 1945 zu einem der bekanntesten Literaturwissenschaftler der Bundesrepublik. In Stuttgart wirkte der Germanistikprofessor über viele Jahre als wichtige Figur des kulturellen Lebens.

Der als Sohn eines Fabrikanten in Magdeburg geborene Fritz Martini avancierte an seinem langjährigen Wirkungsort Stuttgart zu einem der prominentesten Germanisten der Nachkriegszeit. An der Technischen Hochschule (TH) begründete er seinen über die Fachgrenzen hinausreichenden Ruf als „Starautor bedeutender Verlage“ (Helmut Kreuzer), „berühmter Autor“ (Erich Rothacker) und Stuttgarter „Literaturpapst“ (Ella Petersen). Dieses Renommee war eng mit seiner im Stuttgarter Alfred Kröner Verlag erschienenen „Deutschen Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart“ (1949) verknüpft. Das Buch war mit 19 Auflagen bis 1991 sowie einem postumen Nachdruck 2003 nicht nur ein Longseller, es wurde auch vielfach übersetzt; beispielsweise ins Portugiesische (1963), Spanische (1964), Italienische (1968), Rumänische (1972), Serbo-Kroatische (1972) und Japanische (1979), was Martini international bekannt machte. Darüber hinaus schrieb er zahlreiche wissenschaftliche Monografien, die in bekannten Verlagen – z.B. Metzler, Kröner, Klett-Cotta – meist mehrere Auflagen erreichten. Insbesondere die umfangreiche Studie über die „Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus“ (1962) und „Das Wagnis der Sprache“ (1954) mit Interpretationen von Texten der Moderne galten lange als Standardwerke. Er publizierte zudem Aufsätze zu kanonischen Autoren wie Lessing oder zu Epochen wie dem Sturm und Drang in allen wichtigen literaturwissenschaftlichen Zeitschriften. Als Editor verantwortete er unter anderem eine Werkausgabe Christoph Martin Wielands.

1933 in Berlin mit einer Arbeit über Wilhelm Raabe promoviert, führte ihn seine akademische Vita zunächst an die NS-Vorzeigeuniversität Kiel, wo ein erster, durch ein Stipendium des Reichserziehungsministeriums unterstützter Habilitationsversuch scheiterte, weil die Habilitationskommission Zweifel an Martinis philologischen Fähigkeiten anmeldete. Im Spruchkammerverfahren führten Martini und ein Leumundszeuge das Scheitern der Habilitation in Kiel im Nachhinein auf politische Gründe zurück. In Hamburg konnte er sich 1938 mit der gleichen Studie über das Bild des Bauern in der deutschen Literatur qualifizieren. An die TH Stuttgart wurde Martini schließlich 1943 als Nachfolger des völkischen Germanisten Hermann Pongs (1889-1979) als außerordentlicher Professor für Deutsche Literatur und Ästhetik berufen. Seine – zeittypisch von Hitler unterzeichnete – Ernennungsurkunde datiert auf den 10. März 1944.

Martini folgte in seinen Schriften im „Dritten Reich“ einem klar völkischen, mitunter auch rassistischen und antisemitischen Paradigma, auch wenn er und seine Spruchkammerzeugen in seinem Entnazifizierungsverfahren beteuerten, Martinis veröffentlichten Texte zwischen 1933 und 1945 seien „rein wissenschaftlich“ gewesen. Im Jahr seiner Promotion 1933 war Martini der NSDAP und der SA beigetreten. Später wurde er aktives Mitglied im NS-Dozentenbund. Belege für nationalistische, völkische und auch antisemitische Rhetorik finden sich seit Mitte der 1930er Jahren in Rezensionen in der Fachzeitschrift „Dichtung und Volkstum“ und in weiteren Veröffentlichungen. 1941 beteiligte er sich etwa mit einem Aufsatz über „Verfall und Neuordnung in der deutschen Dichtung seit dem 19. Jahrhundert“ am germanistischen Beitrag zum „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“. Bei diesem Projekt handelte es sich um ein staatlich gefördertes Großprojekt, das die Bedeutung der Geisteswissenschaften gegenüber den als kriegswichtiger erachteten technischen Disziplinen unterstreichen und national wie international propagandistische Wirkung entfalten sollte. Martini bekannte sich in seinem Text zur nationalsozialistischen Gegenwartsliteratur und griff unter anderem den exilierten Thomas Mann an. Zwei Jahre nach diesem Beitrag folgte 1943 der Ruf nach Stuttgart. Antreten konnte Martini, der seit 1940 der Wehrmacht angehörte, seine Stelle kriegsbedingt allerdings noch nicht.

Nach der Rückkehr aus der britischen Gefangenschaft im September 1945 und der Aufnahme seiner Tätigkeit in Stuttgart wurde er wegen seinen Mitgliedschaften in NS-Organisationen im April 1946 zunächst durch ein Schreiben des Kultministers Theodor Heuss (1884-1963) suspendiert. Das gegen Martini gerichtete Verfahren durch die Stuttgarter Spruchkammer wurde 1947 mit der Einstufung als „Mitläufer“ abgeschlossen, sodass er zum Wintersemester 1947/48 seine außerordentliche Professur wiederbesetzen konnte. 1950 wurde diese Stelle zunächst zu einem sogenannten persönlichen Ordinariat, 1956 dann zum Ordinariat aufgewertet. In den Folgejahren wirkte Martini sowohl wissenschaftlich als auch wissenschaftspolitisch an der Konsolidierung der Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland mit. In Fachkreisen ist Martinis Name fest mit seinem Einsatz für die in der NS-Zeit verfemte Literatur der avantgardistischen Moderne und vor allem des Expressionismus verbunden, für dessen Wiederentdeckung er sich als einer der ersten bekannten Germanisten nach 1945 einsetzte.

Über mehrere Jahrzehnte war Martini, der neben der universitären Lehre auch an der Volkshochschule unterrichtete, als hoch angesehener Intellektueller und Autor erfolgreicher Bücher eine wichtige Figur im kulturelle Leben Stuttgarts. So lud er z.B. berühmte Autoren wie Paul Celan und Gottfried Benn an die Hochschule ein. Insgesamt trat er im städtischen Raum und über die Stadtgrenzen hinweg als Wissenschaftspopularisierer in Erscheinung, etwa im 1945 gegründeten Stuttgarter Kulturbund sowie durch feuilletonistische Artikel und Essays zu literarischen und literaturwissenschaftlichen Themen. Als Literaturvermittler wirkte er ferner u.a. in Kultursendungen im Radioprogramm des SWR mit.

In Stuttgart tat er sich zudem aktiv in kulturellen Gremien hervor, war Mitglied im Rotary Club, im Presbyterium seiner Kirchengemeinde und beriet die Stadt – durch seine Arbeit im Kulturbund und seine engen Kontakte zum Kulturreferenten – in entsprechenden Fragen. Außerdem agierte er als wissenschaftspolitischer Funktionär in verschiedenen Institutionen wie etwa der Schillergesellschaft in Marbach. Er gehörte den Jurys aller wichtiger Literaturpreise im Stuttgarter Großraum an und wurde von der Schwedischen Akademie um Nominierungen für den Literaturnobelpreis gebeten. In der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung übernahm er Funktionen, gehörte über viele Jahre dem erweiterten Präsidium an und war in diesem Rahmen Mitglied der Jurys für die Preise der Akademie, darunter der Georg-Büchner-Preis. Im literarischen Leben war Martini immer wieder als Gutachter gefragt und trat wiederholt für die Kunstfreiheit ein. So setzte er sich etwa für Hermann Hesse ein, als der baden-württembergische Kultusminister Gotthilf Schenkel (1889-1960) (SPD) einen großen Festakt in Stuttgart anlässlich von Hesses 75. Geburtstag verhindern wollte. Die Veranstaltung im Großen Saal des Staatstheaters fand letztlich wohl auch aufgrund von Martinis Gutachten statt. Mit dem zeitweiligen Kultusminister und Kulturfunktionär Gerhard Storz (1898-1983) (CDU) verband ihn eine langjährige Freundschaft.

Beim Umwandlungsprozess der Stuttgarter Technischen Hochschule zur Universität war Martini eine treibende Kraft. Die Geisteswissenschaften an dieser von den Ingenieurwissenschaften dominierten Universität erhielten durch seine Unterstützung einige sehr prominente Lehrenden: So setzte er sich nachdrücklich für die Berufungen des Philosophen Max Bense (1910-1990) sowie des Historikers Golo Mann (1909-1994), den Sohn Thomas Manns, ein. Außerdem ermöglichte er der jüdischen Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger (1896-1992) die Rückkehr aus dem schwedischen Exil in den deutschen Wissenschaftsbetrieb, die Habilitation und die Fortsetzung ihrer durch die Nationalsozialisten unterbrochenen Karriere. Mit ihr war er bis zu seinem Tod eng befreundet. Darüber hinaus versuchte er auch unter Aktivierung seiner Kontakte ins Kultusministerium, ihr ein erträgliches Einkommen zu beschaffen, und ließ sie seine Stelle bei seinen Gastaufenthalten im Ausland vertreten. Diese Vorgehensweise wurde ihm vor dem Hintergrund seines Wirkens in der NS-Zeit immer wieder als Versuch einer aktiven Wiedergutmachung positiv angerechnet.

Mit einer Vielzahl internationaler Kolleginnen und Kollegen, darunter zur NS-Zeit emigrierte Personen, stand Martini jahrzehntelang in regem Briefkontakt. Auch mit Autorinnen und Autoren wie Benn, Celan, Alfred Döblin, Claire Goll, Hermann Kasack oder Thomas Mann pflegte er den brieflichen Austausch. Viele dieser Korrespondenzen sind in seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach überliefert. Der Stuttgarter Schriftsteller Hermann Lenz machte Martini unter dem Namen „Georgi“ zur literarischen Figur in seinem Roman „Ein Fremdling“ (1983).

Seinen Studierenden war Martini, wie Artikel zu Geburtstagen, Porträts, Nachrufe und biografische Berichte nahelegen, ein beliebter und populärer Lehrer. Doch obwohl er Rufe an US-amerikanische Universitäten ablehnte, war er mit seiner Position in Stuttgart nicht immer zufrieden. So fühlte er sich ungeachtet seines Erfolgs auf dem Buchmarkt und seiner Bedeutung für das kulturelle Leben in der Landeshauptstadt in seinem Fach lange als Außenseiter, was nicht zuletzt durch das Ausbleiben eines Rufes an eine deutsche Volluniversität verstärkt wurde. Diese Hoffnungen zerschlugen sich trotz intensiver Bemühungen spätestens Mitte der 1960er Jahre, sodass er bis zu seiner Emeritierung 1974 und darüber hinaus in Stuttgart verblieb.

1979 wurde ihm auf Vorschlag des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth (CDU) das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. 1985 wurde er mit der Goldenen Goethe-Medaille der Goethe-Gesellschaft ausgezeichnet. 1991 starb Martini im Alter von 81 Jahren in Stuttgart. Trotz stark beeinträchtigtem Sehvermögen war er bis in seine letzten Lebensjahre wissenschaftlich tätig geblieben. Beerdigt wurde Martini auf dem Gablenberger Friedhof unweit seines langjährigen Domizils in der Grüneisenstraße 5 in Stuttgart-Ost. Über seine NS-Vergangenheit hat er sein Leben lang geschwiegen.

Text: Jens Krumeich
Schlagworte: Stuttgart-Mitte, Wissenschaftsfestival
Quellenhinweise:

Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Martini, Fritz, Nachlass Fritz Martini.
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 902/20 Bü 64697 Spruchkammerakte Fritz Martini.
Fritz Martini, Verfall und Neuordnung in der deutschen Literatur seit dem 19. Jahrhundert, in: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Bd. 4, hg. von Gerhard Fricke/Franz Koch/Klemens Lugowski, Stuttgart/Berlin 1941, S. 367-413.
Fritz Martini, Was war Expressionismus? Deutung und Auswahl seiner Lyrik, Urach 1948.
Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1949 (19 Auflagen bis 1991; lizensierter Nachdruck 2003).
Universitätsarchiv Stuttgart 57/132 Personalakte Fritz Martini.

Literaturhinweise:

Andrea Albrecht/Jens Krumeich, Mitläufer unter sich. Der Germanist Fritz Martini als Gutachter über Akteure der NS-Zeit, in: Scientia Poetica 25 (2021), S. 305-327.
Andrea Albrecht/Jens Krumeich, Fritz Martini und die deutsche Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Heidelberg 2022.
Jens Krumeich, Fritz Martini, in: Baden-Württembergische Biographien, Bd. VIII, hg. im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg von Martin Furtwängler, Ostfildern 2022 (im Druck).
Heinz Schlaffer, Deutsche, Literatur, Geschichte – der Germanist Fritz Martini, in: Die Universität Stuttgart nach 1945. Geschichte – Entwicklungen – Persönlichkeiten, hg. von Norbert Becker/Franz Quarthal, Ostfildern 2004, S. 337-339.

GND-Identifier: 118731378
Publiziert am: 23.06.2022
Empfohlene Zitierweise:
Jens Krumeich, Fritz Martini (1909-1991), publiziert am 23.06.2022 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/58d7ec02-a7de-4dc2-8fe1-5041c5fced76/Fritz_Martini_%281909-1991%29.html