Die „Hunnenbrief“-Prozesse am Stuttgarter Landgericht im November 1901
Im November 1901 fanden in Stuttgart zwei politische Prozesse gegen Redakteure statt. Sie waren der Auftakt einer Serie von Prozessen, mit denen das Militär gegen Kritik an der deutschen Kriegsführung im damals sogenannten „Boxer-Krieg“ in China vorging.

In den Jahren 1900/01 führte das Deutsche Reich mit einer internationalen Allianz Krieg gegen das Kaiserreich China und die militante soziale Bewegung der Yihetuan, die sogenannten „Boxer“. Insbesondere nach der Tötung des deutschen Botschafters Clemens von Ketteler im Sommer 1900 verbreitete sich in Teilen der Gesellschaft eine tiefe nationalistische Empörung. Auch viele Angehörige des Württembergischen Armeekorps meldeten sich daraufhin als Freiwillige für den Kriegseinsatz in China. Doch es gab ebenso Stimmen, die diesen Krieg als imperialistisch motiviert ablehnten. Hinzu kam das zunehmende Entsetzen über die drastische Art der Kriegsführung der alliierten Truppen in China. Tageszeitungen druckten Briefe ab, die Soldaten vom Kriegsschauplatz in die Heimat geschickt hatten und die – gewollt oder ungewollt – Verbrechen enthüllten. Sie gingen als sogenannte „Hunnenbriefe“ in die Geschichte ein. Die Bezeichnung knüpfte an die „Hunnenrede“ von Kaiser Wilhelm II. an. Am 27. Juli 1900 hatte er in Bremerhaven Soldaten des deutschen Ostasiatischen Expeditionskorps unter anderem angewiesen, in China keine Gefangenen zu machen.

In der Öffentlichkeit kam es zu heftigen Debatten und im Reichstag erhob der Führer der Sozialdemokraten, August Bebel, schwere Vorwürfe gegen die Reichsregierung und das Militär. Diese bestritten die Vorwürfe schlichtweg und gingen teilweise auch juristisch gegen Kritiker vor. So stellte der preußische Kriegsminister Heinrich von Goßler eine Reihe Strafanträge wegen Verleumdung und Beleidigung des Ostasiatischen Expeditionskorps. In Stuttgart wurde als erstes Karl Schmidt (geb. 1855) wegen eines Artikels im „Beobachter“, dem Presseorgan der demokratischen Württembergischen Volkspartei, angezeigt. Schmidt war der Chefredakteur dieser Tageszeitung. Nachdem sich im September 1901 der Redakteur Frank E. W. Freund als Autor des Artikels zu erkennen gab, wurde die Anklage auf ihn und weitere seiner Artikel ausgeweitet.

Bemerkenswert war, dass die Initiative nicht vom württembergischen Kriegsministerium oder der Pressezensur der Stuttgarter Staatsanwaltschaft ausgegangen war. Dies lag vermutlich am liberaleren politischen Klima in Württemberg. Hinzu kam, dass die Volkspartei den Krieg grundsätzlich sogar unterstützte und im „Beobachter“ nicht nur kritische Beiträge erschienen. Außerdem besaß Chefredakteur Schmidt als Landtagsabgeordneter der württembergischen Volkspartei politische Immunität. Deren Aufhebung lehnte der Landtag im Mai 1901 zunächst ab. Die Strafverfolgung konnte aber nach Ende der Sitzungsperiode des Landtages fortgesetzt werden.

Im Herbst 1901 griffen dann reichsweit Zeitungen ein vom „Schwäbischen Merkur“ verbreitetes Gerücht auf, wonach die württembergische Regierung geneigt sei, das Verfahren von der Staatsanwaltschaft einstellen zu lassen, wenn der Redakteur Abbitte leiste. Die „Kölnische Zeitung“, eine der wichtigsten überregionalen Zeitungen, die sich intensiv mit den Kolonien befasste, polemisierte darauf gegen die württembergische Regierung. Sie behauptete, die demokratische Presse hetze bereits seit Jahrzehnten unbehelligt gegen Kaiser und deutsches Heer und setze so deren Ansehen im Volke herab. Wenn sich das Gerücht bewahrheiten solle, sei dies ein Beweis für die Schwäche der Regierung. Sie wage es nicht, einen demokratischen Abgeordneten zur Rechenschaft zu ziehen und wolle lieber den politischen Gegner für sich gewinnen. Die Berliner SPD-Zeitung „Vorwärts“ bezweifelte den Vorwurf des politischen Opportunismus. Sie fragte, ob die Regierung vielleicht verhindern wolle, dass in einem Prozess auch nur ein Teil der Wahrheit über die Vorgänge in China herauskomme. Durch die Meldungen kam es zu diplomatischen Verwicklungen. Der Staatsekretär des Auswärtigen Amts in Berlin setzte die württembergische Regierung unter Druck, umgehend eine Richtigstellung in der „Kölnischen Zeitung“ zu veranlassen. Bald darauf wurde in den Zeitungen gemeldet, dass der Prozess gegen Schmidt zügig anberaumt werden solle.

Der Prozess fand am 1. November 1901 am Landgericht statt. Gegenstand waren Artikel vom 4. Dezember 1900 sowie vom 2. Januar 1901. In einem Artikel hatte Freund geschrieben, die Deutschen seien, den verbündeten Heeren voran, plündernd, sengend, brennend und mordend in China eingefallen. Die Expedition zur Befreiung der in Peking belagerten internationalen Diplomaten habe sich zum schlimmsten Raub- und Rachezug verwandelt, den die Erde je gesehen habe. In einem anderen Artikel wurde außerdem die brutale Behandlung von deutschen Soldaten durch ihre eigenen Vorgesetzten angeprangert. Er beruhte auf Informationen des württembergischen Unteroffiziers Friedrich Weinmann. Dieser hatte geschildert, dass er Soldaten auf Befehl eines Offiziers zur Bestrafung öffentlich an Pfählen habe anbinden müssen, obwohl Arrestmöglichkeiten bestanden. Es sei besonders demütigend gewesen, dass an ihnen täglich Hunderte von Chinesen vorübergingen. Dieser Unteroffizier musste im Prozess als Zeuge aussagen und damit einem ranghohen Zeugen gegenübertreten: Generalleutnant Emil von Lessel (1847-1927), Kommandeur des deutschen Expeditionskorps, kam, um pauschal und mit Nachdruck alle Vorwürfe gegen das Militär zu leugnen. Er verbreitete zudem die Verschwörungstheorie, dass die in der Presse abgedruckten Soldatenbriefe gar nicht aus China stammten, sondern in einer sozialdemokratischen „Hunnenbrief-Fabrik“ in Zürich produziert würden.

Die Ereignisse in China wurden vor Gericht nicht tiefer erörtert, eine breitere Beweiserhebung und Zeugenbefragung blieben aus. Die allgemeinen politischen Verhältnisse, der Richter, der Oberstaatsanwalt, das spektakuläre Auftreten des Generals, aber auch eine eher defensive Verteidigung verhinderten dies. Am Ende sprach das Landgericht Chefredakteur Schmidt, der sich inhaltlich von Redakteur Freund distanziert hatte, frei. Freund wurde hingegen zu vier Wochen Gefängnis verurteilt und musste einen Teil der Prozesskosten übernehmen. Und der „Beobachter“ wurde dazu verpflichtet, das Urteil bekannt zu machen.

Der zweite Prozess gegen Berthold Heymann (1870-1939) wurde wenige Tage später, am 7. November 1901 abgehalten. Heymann war erst seit dem 1. April 1901 Chefredakteur der in Stuttgart erscheinenden, weitverbreiteten sozialdemokratischen Satirezeitschrift „Der wahre Jacob“. Er spielte später eine bedeutende Rolle in der SPD als Stuttgarter Parteivorsitzender, langjähriger württembergischer Landtagsabgeordneter sowie, nach der Novemberrevolution 1918, kurzzeitiger Kult- und Innenminister. Sein Rechtsanwalt war Friedrich Haußmann (1857-1907), einer der Führer der württembergischen Volkspartei.

Im „Wahren Jacob“ war eine Vielzahl an Artikeln, Gedichten und Karikaturen zum „Boxer“-Krieg erschienen, die Staat, Militär, Kapitalisten und Missionare anprangerten. Das preußische Kriegsministerium griff daraus das Gedicht „Heimkehr“ von Anfang Juli 1901 als Beweis für den Vorwurf der Verleumdung und Beleidigung heraus. In dem Gedicht wurde neben den hohen Kosten der Expedition auf das „Sengen, Brennen, Morden“ hingewiesen, von dem die heimkehrenden „Hunnen“ „schlapp“ seien. Oberstaatsanwalt Georg Herrschner, der die Anklage auch schon im ersten Prozess vertreten hatte, sah diesen Rechtsstreit als weniger bedeutend an, da es sich um ein Witzblatt handele. Dennoch befürwortete er, dass der Satire Grenzen gesetzt werden. Da Heymann sich weigerte, den Namen des Autors zu nennen, beschränkte sich dieser Prozess auf ihn. Er erklärte, wegen einer anzutretenden vierwöchigen Gefängnisstrafe als Redakteur nur flüchtig über das Gedicht weggegangen zu sein, aber die Verantwortung dafür zu übernehmen. Zwischen Staatsanwalt und Verteidigung kam es zu Auseinandersetzungen über die Frage, ob es sich bei den Kriegsverbrechen nur um extreme und bereits geahndete Einzelfälle gehandelt habe oder diese eben doch verbreitet gewesen seien. Dabei ging es auch darum, welche Bedeutung der „Hunnenrede“ des Kaisers beizumessen sei. Herrschner stritt eine Verantwortung des Kaisers ab und führte zur Abwehr von Vorwürfen wieder die angebliche „Hunnenbrief-Schmiede“ in Zürich an. Haußmann verwies darauf, dass private Briefe sowie Beiträge von Kriegsberichterstattern auch in bürgerlichen Zeitungen wie dem „Schwäbischen Merkur“ oder dem „Neuen Tagblatt“ erschienen waren. Darin sei über das Abbrennen ganzer Ortschaften, Massenerschießungen sowie das Begraben zweier Chinesen bei lebendigem Leib durch russische Soldaten im Beisein Deutscher berichtet worden.

Trotz dieser ernsten Debatte nahm der Prozess stellenweise humoristischen Charakter an. So argumentierte Rechtsanwalt Haußmann, das Wort „Morden“ sei wohl nur verwendet worden, weil der Autor einen Terminus gebraucht habe, der sich auf die eigentliche Pointe reime, die mit „los geworden“ endete. Heymann wurde zu 200 Mark Strafe oder ersatzweise 20 Tagen Gefängnis verurteilt. Die beanstandeten Zeitungen mussten vernichtet werden. Dem preußischen Kriegsminister wurde zudem die Befugnis zuerkannt, das Urteil auf Kosten des Verurteilten innerhalb von vier Wochen nach eingetretener Rechtskraft im „Wahren Jacob“ und dem „Deutschen Reichs-Anzeiger“ bekannt zu machen. Der „Wahre Jacob“ brachte jedoch statt der Bekanntmachung im Dezember 1901 einen Beitrag, der sich in berlinerischem Dialekt über Aussagen des Richters hinsichtlich der Vorstrafen des Blattes lustig machte.

Auf die Stuttgarter folgten bald eine Reihe weiterer Prozesse, die sich gegen sozialdemokratische Blätter wie das Berliner Zentralorgan der Partei, den „Vorwärts“, richteten. Parallel zum Vorgehen gegen Kritiker setzte die Heldenverehrung der Kriegsteilnehmer ein. So wurde Ende 1901 im Hof einer Ludwigsburger Kaserne ein Gedenkstein für gestorbene „Chinakrieger“ aufgestellt, der sogenannte „Chinesenstein“. Einige Jahre später folgte eine Gedenktafel in der Stuttgarter Garnisonskirche.

Text: Heiko Wegmann
Schlagworte: Stuttgart-Mitte, Kolonialismus
Quellenhinweise:

Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 40/54 Bü 46 Berichtigung eines Artikels der Kölner Zeitung über den Presseprozess gegen den Chefredakteur des Stuttgarter Beobachters.

Literaturhinweise:

Susanne Kuß, Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010.
Mechthild Leutner/Klaus Mühlhahn (Hg.), Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin 2007.
Till Spurny, Die Plünderung von Kulturgütern in Peking 1900/1901, Berlin 2008.
Dietlind Wünsche, Feldpostbriefe aus China. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster deutscher Soldaten zur Zeit des Boxeraufstandes 1900/1901, Berlin 2008.

Publiziert am: 01.09.2022
Empfohlene Zitierweise:
Heiko Wegmann, Die „Hunnenbrief“-Prozesse am Stuttgarter Landgericht im November 1901, publiziert am 01.09.2022 in: Stadtarchiv Stuttgart,
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