Luftkriegsopfer im Kriegsgefangenenlager Gaisburg ("Katastrophe von Gaisburg")
Bei einem alliierten Luftangriff kamen in der Nacht vom 14. zum 15. April 1943 im städtischen Lager Gaisburg über 400 hauptsächlich französische und russische Kriegsgefangene ums Leben. Überlebende prägten dafür später den Begriff „Katastrophe von Gaisburg“.

Im Februar 1934 richtete die Stadtverwaltung im Rahmen der nach dem NS-Machtantritt verschärften Sozialpolitik auf dem Gelände eines 1929 angelegten Materiallagerplatzes an der Ulmer Straße 129 die „Plattenfabrik Gaisburg“ als „Pflichtarbeitsstelle“ ein. Arbeitsfähige Unterstützungsempfänger, vor allem aber politisch Missliebige, arbeitslose Juden oder sozial auffällige Männer mussten hier, streng bewacht, Betonplatten herstellen. 1939 wurde das Lager aufgelöst.

In den leerstehenden Baracken quartierte die Stadt ab August 1940 französische Kriegsgefangene ein, die vornehmlich bei städtischen Ämtern und Betrieben arbeiteten. Als schon wenig später das Arbeitsamt eine weitere „Zuteilung“ von 300 bis 400 Kriegsgefangenen zusagte, ließ die Stadt das Lager zügig ausbauen. Im Frühjahr 1942 wurde das Lager letztmalig in östlicher Richtung erweitert; im sogenannten Russenlager wurden sowjetische Kriegsgefangene untergebracht. In der Stadtverwaltung war für das Lager das Tiefbauamt zuständig, für die Bewachung die Wehrkreisverwaltung mit Sitz in Ludwigsburg.

1940 waren erstmals Bomben auf Stuttgart gefallen, aber erst gegen Ende 1942 geriet Stuttgart aufgrund der militärischen wie technischen Entwicklung wieder ins Visier alliierter Bomber. Wichtige strategische Ziele im Osten des Rüstungszentrums Stuttgart waren unter anderem die Daimler-Werke und das Gaswerk mit seinem riesigen Gaskessel – das Lager befand sich genau dazwischen. Zum Schutz bei Luftangriffen gab es für die Gefangenen Betonbunker, die in den Neckardamm hineingebaut waren.

Anfang April 1943 befanden sich schätzungsweise 2.000 Kriegsgefangene im Gaisburger Lager. In der Nacht vom 14. auf den 15. April griffen 462 Bomber der Royal Air Force Stuttgart an. Ihr Ziel war das Bosch-Werk bei der Liederhalle in der Stadtmitte. Vorausfliegende Flugzeuge markierten mit ihren Leuchtbomben jedoch fälschlicherweise das Neckartal zwischen Mühlhausen und Bad Cannstatt bzw. Gaisburg; diesen Bereich griffen die nachfolgenden Bomber etwa eine Stunde später in sechs bis acht Wellen an. Rund 200 deutsche Zivilisten kamen dabei ums Leben, außerdem mehr als ein Dutzend Zwangsarbeiter – und eben eine sehr große Zahl von Kriegsgefangenen in Gaisburg.

Dort setzten Brandbomben einige Baracken in Brand, eine Sprengbombe tötete eine unbekannte Zahl an Menschen – und warf brennende Barackenteile vor und auf einen hölzernen, mit Dachpappe belegten Bunkerzugang. Durch die Hitze verzogen sich die Türen und ließen sich nicht mehr bewegen. Das Öffnen der rückwärtigen Notausgänge verursachte eine Kaminwirkung: Flammen und giftige Gase wurden geradezu in den Bunker hineingesogen. Manche Opfer verbrannten, andere starben, äußerlich unverletzt, an Kohlenmonoxidvergiftung. Laut übereinstimmenden Augenzeugenberichten herrschte nach dem Angriff Chaos auf dem Gelände; manche Überlebenden saßen nur apathisch herum, andere übernahmen tatkräftig die Bergung von Verwundeten und Toten. Es kam zu Plünderungen.

Zunächst war von drei getöteten deutschen Wachsoldaten sowie 257 französischen und 143 sowjetischen Kriegsgefangenen die Rede. Nach dem Auffinden weiterer Opfer musste deren Zahl später auf 431 korrigiert werden. Am 17. April fand auf dem Steinhaldenfeld-Friedhof die Beisetzung der aus der UdSSR stammenden Opfer statt; laut Augenzeugen wurden sie ohne individuelle Identifizierung in Papiersäcke gehüllt und in Massengräbern bestattet. Für die Franzosen und neun Engländer, abgeschossene Flugzeugbesatzungen, fand am 19. April eine Trauerfeier mit militärischen Ehren statt; Überlebende der Katastrophe, der französische Botschafter, deutsche Offiziere, Vertreter der Stadtverwaltung und eine Wehrmachtskapelle erwiesen die letzte Ehre. Diese Toten wurden in Särgen bestattet, Holzkreuze auf den Massengräbern trugen die Namen der Getöteten.

Im Laufe des Jahres 1943 verlegte die Stadtverwaltung die verbliebenen Kriegsgefangenen in leerstehende Schulgebäude im gesamten Stadtgebiet. Bombentreffer bei Fliegerangriffe am 2. März und 5. September 1944 ebneten das Lagergelände nahezu ein.

Einige Überlebende schrieben Erinnerungen an ihre Gaisburger Zeit auf und prägten den Begriff von der „Katastrophe von Gaisburg“. 1948 wurden die sterblichen Überreste der französischen Opfer in ihre Heimat überführt.

Das Lager geriet weitgehend in Vergessenheit. Erst die Forschungen von Dr. Elmar Blessing und seine Ausstellung im MUSE-O, dem Museumsverein Stuttgart-Ost, brachten es 1999 ins Bewusstsein zurück. 2002 wurden zwei Gedenktafeln enthüllt: eine am Standort des Lagers, nicht öffentlich zugänglich auf dem Firmengelände der heutigen EnBW, und eine zweite, künstlerisch gestaltete, öffentliche an der Haltestelle „Brendle (Großmarkt)“. An der ergreifenden Feier nahmen auch zwei Überlebende der „Katastrophe“ aus Frankreich teil.

Text: Ulrich Gohl
Schlagwort: Stuttgart-Ost
Literaturhinweise:

Heinz Bardua, Stuttgart im Luftkrieg 1939-1945, 2., vermehrte und verbesserte Auflage, Stuttgart 1985, hier S. 58-60.
Elmar Blessing, Die Kriegsgefangenen in Stuttgart. Das städtische Kriegsgefangenenlager in der Ulmer Straße und die „Katastrophe von Gaisburg“. 2., verbesserte Auflage, Stuttgart 2001.
Elmar Blessing, Der Stuttgarter Osten im Zweiten Weltkrieg. Zeitzeugenberichte und Bilder, Stuttgart 2005, hier S. 88-96 und S. 115-118.
Ulrich Gohl, Plattenfabrik Gaisburg, in: Ulrich Gohl, Made in S-Ost. Produzierende Betriebe im Stuttgarter Osten von den Anfängen bis heute, Stuttgart 2016, S. 177-179.
Peter König, Kriegsgefangene und FremdarbeiterInnen in Stuttgart, in: Stuttgart im Zweiten Weltkrieg, hg. von Marlene P. Hiller, Gerlingen 1989, S. 353-368.

Publiziert am: 24.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Gohl, Luftkriegsopfer im Kriegsgefangenenlager Gaisburg ("Katastrophe von Gaisburg"), publiziert am 24.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
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