Seit 1925 ist die Villa Reitzenstein an der Richard-Wagner-Straße der Amtssitz der Staatspräsidenten von Württemberg, seit 1952 der Ministerpräsidenten des Bundeslandes Baden-Württemberg.

Die Villa Reitzenstein ist ein Symbol für die spannende, zeitweise sogar dramatische Geschichte des deutschen Südwestens. Helene von Reitzenstein (1853-1944), eine Tochter von Eduard Hallberger, dem Begründer der bis heute renommierten Deutschen Verlagsanstalt, hat sie 1910 planen und bis 1913 erbauen lassen. Als ihr Vater 1880 überraschend starb, erbte Helene ein beträchtliches Vermögen, doch ihr schöner Traum von einem privilegierten Leben erfüllte sich nicht – die weltpolitischen Zeitläufte, dazu ihr persönliches Schicksal zerstörten alle Hoffnungen und Wünsche. 1897 starb ihr Mann, der Rittmeister Carl Friedrich von Reitzenstein. Erst Jahre später überwand seine Witwe mit der Hilfe von Freunden ihre Trauer, fasste neuen Mut, ließ sich von den jungen Stuttgarter Architekten Hugo Schlösser und Johann Weirether auf der Gänsheide, in schönster und bester Halbhöhenlage, ein Palais planen und bauen, dem sie den Namen Reitzenstein gab – zu Ehren ihres verstorbenen Mannes. Es kostete sie 2,8 Millionen Goldmark, eine gewaltige Summe.

Doch die Bauherrin wurde dort nicht glücklich, obwohl das Gebäude, umgeben von einem wunderbaren Park und architektonisch dem barocken Jagdschloss Monrepos bei Ludwigsburg nachempfunden, den damals aktuellen Stand der Technik wiederspiegelte: Zentralheizung mit separater Heizzentrale, Garagen für die modernen Automobile, große Küche und Keller, dazu Salons, Spielzimmer und Bibliothek – alles vom Allerfeinsten! Bis heute findet man beim Rundgang durch den Park Bäume und Sträucher, die die Bauherrin vor mehr als hundert Jahren hier hat pflanzen lassen.

1913 zog die Witwe ein, schon 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Nach der deutschen Niederlage von 1918 musste König Wilhelm II. von Württemberg abdanken; er ging mit seiner Frau Charlotte ins „Exil“ nach Bebenhausen bei Tübingen. Helenes großer Traum fürs Alter war es, mit Königin Charlotte, ihrer Freundin, den Lebensabend auf der Gänsheide zu verbringen. Dieser Traum endete jäh: Charlotte kam nie mehr nach Stuttgart, mochte von der nach wie vor reichen Helene nicht abhängig werden.

1921 starb König Wilhelm II. Auch im deutschen Südwesten begann eine neue politische Zeitrechnung, in der die zwei glücklosen Frauen aus dem 19. Jahrhundert keine Rolle mehr spielten. Noch im gleichen Jahr verkaufte Helene von Reitzenstein ihr Anwesen auf der Gänsheide zum Schnäppchenpreis an die neue Württembergische Staatsregierung, zog sich nach Bayern zurück und starb dort vereinsamt 1944. Sie liegt auf dem Stuttgarter Pragfriedhof begraben.
 
Die Villa Reitzenstein, das Haus Richard-Wagner-Straße Nummer 15, ist bis heute der Inbegriff der legendären Halbhöhenlage, seit mehr als hundert Jahren ein geschichtsträchtiger Ort. Doch dieses Gebäude, das den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hat, ist kein Museum. Von 2013 bis 2016 wurde die Villa gründlich restauriert, baulich saniert und technisch modernisiert. Die Federführung hatte der Architekt Martin Sting aus Berlin, dessen familiäre Wurzeln auf der Schwäbischen Alb liegen, erfahren in der schwierigen Arbeit mit historisch bedeutsamen Denkmälern. Von ihm stammen auch die Pläne für den neuen Bürotrakt, das „Eugen-Bolz-Haus“, nur einen Steinwurf entfernt. 26 Millionen Euro wurden in den Neu- und den Altbau investiert.

Dabei hing das Schicksal dieses historischen Geländes auf der Gänsheide im Frühjahr 2011 für einige Wochen am seidenen Faden: Als Winfried Kretschmann, der Spitzenkandidat der Grünen, die Landtagswahl vom 27. März gewann und wenig später eine Koalition schmiedete mit den Sozialdemokraten, da verblüfft er die erstaunte Stuttgarter Öffentlichkeit mit diesen Sätzen: „Ich möchte als Ministerpräsident nicht auf einem Schloss residieren, ich möchte die Villa Reitzenstein verlassen und hinunter in die Stadt ziehen – nahe zu den Bürgern!“ Kretschmann propagierte die „Politik des Gehörtwerdens“, zu der für ihn kein abgeschirmtes Areal unter uralten Bäumen hoch über der Stadt passte.

Doch so intensiv sich der neue Ministerpräsident und sein Vertrauter Klaus-Peter Murawski auch bemühen – sie fanden keinen alternativen Ort, alle ihre Suchläufe schlugen fehl. Sozusagen ein Wink der Geschichte, für den heute alle Beteiligten dankbar sind. Winfried Kretschmann entschied pragmatisch: „Wir bleiben auf der Gänsheide, modernisieren das Areal, bauen einen neuen Bürotrakt, denn der alte aus den siebziger Jahren ist vom Asbest verseucht.“ Gesagt, getan. Sogar die politische Konkurrenz von der CDU gestand es offen und ehrlich ein: „Wir besaßen in den letzten Jahren unserer Regierungszeit bis 2011 nicht den Mut, die notwendige Modernisierung anzugehen. Das haben die Grünen angepackt und richtig gemacht.“

Zurück in die Geschichte: Nach dem Verkauf des Anwesens an die Staatsregierung von Württemberg stand die Villa Reitzenstein zwischen 1921 und 1925 die meiste Zeit leer, denn ihre neuen Besitzer wussten nicht so recht, was sie mit diesem „Schnäppchen“ anfangen sollten. Die Pläne, das neue Reichsverwaltungsgericht aus Berlin hier anzusiedeln, waren geplatzt. Schließlich, im September 1925, mitten in der politisch turbulenten „Weimarer Republik“, wählte der Staatspräsident Wilhelm Bazille die Villa zu seinem Amtssitz. Damit begann ihre historische Ära als Machtzentrale – aus der bewegten Weimarer Republik über die furchtbaren Jahre der NS-Herrschaft, über den demokratischen Neubeginn nach 1945 bis heute.

Die Staatspräsidenten der Weimarer Zeit hießen Wilhelm Bazille und Eugen Bolz – letzterer leistete aktiven Widerstand gegen die Nationalsozialisten und wurde von ihnen im Januar 1945 ermordet. Von 1933 bis 1945 führte Reichsstatthalter Wilhelm Murr auf der Gänsheide seine Schreckensherrschaft.

Die Ministerpräsidenten nach 1945 hießen Reinhold Maier (FDP), Gebhard Müller (CDU), Kurt Georg Kiesinger (CDU), Hans Filbinger (CDU), Lothar Späth (CDU), Erwin Teufel (CDU), Günter Oettinger (CDU) und Stefan Mappus (CDU). Seit 2011 ist der Grüne Winfried Kretschmann Hausherr auf der Villa Reitzenstein, im Frühjahr 2016 wiedergewählt, an der Spitze der ersten grün-schwarzen Koalition in Deutschland.

Das Staatsministerium, dessen Zentrale die Villa Reitzenstein bildet, hat rund 250 Mitarbeiter. Nur ein kleiner Teil von ihnen arbeitet in der Villa, die von außen größer wirkt, als sie tatsächlich ist. Im Laufe der Jahrzehnte hat das Land eine ganze Reihe von Gebäuden in der allernächsten Nachbarschaft erworben und in Büros umgewandelt. Als eine Besonderheit ist die „Villa Clay“ zu nennen, unmittelbar an der Richard-Wagner-Straße gelegen. In ihr residierte nach 1945 der legendäre Lucius D. Clay, Oberkommandierender der Alliierten im Süden Deutschlands. Er führte den sogenannten Länderrat, also die Ministerpräsidenten von Hessen, Bayern und dem späteren Baden-Württemberg – kurz, die amerikanische Besatzungszone.

Die im alten Stil von 1914 restaurierte Villa Reitzenstein beherbergt heute nicht nur die Amtsräume des Ministerpräsidenten, zu denen auch ein kleines Appartement gehört, in welchem der Regierungschef übernachten kann. Das Herz des Hauses und sein schönster Raum ist die Bibliothek, daneben liegen im Erdgeschoss der sogenannte Ordenssaal sowie einige kleinere Säle für Gespräche und Gesellschaften im kleineren Kreis. Der sogenannte Gobelinsaal bietet Platz für größere Einladungen – sogenannte deshalb, weil an den Wänden wertvolle Tapisserien hängen, aber keine Gobelins aus der weltberühmten Manufaktur der Familie Gobelin in Paris.

Neben dem Amtszimmer des Ministerpräsidenten im ersten Stock liegt der Kabinettsaal, wo sich seit jeher an jedem Dienstag die Landesregierung trifft, um unter dem Vorsitz des amtierenden Ministerpräsidenten die Geschicke des Landes zu lenken. Daran wird sich auch nichts ändern, denn über alle Parteigrenzen ist man sich einig: Die Villa Reitzenstein bleibt auch für die nächsten hundert Jahre der Amtssitz des Ministerpräsidenten und das Domizil des Staatsministeriums.

Text: Thomas Borgmann
Schlagwort: Stuttgart-Ost
Literaturhinweise:

Thomas Borgmann, Die Villa Reitzenstein. Macht und Mythos, Tübingen 2016.













GND-Identifier: 4211520-6
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Borgmann, Villa Reitzenstein, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/4410cf63-71fd-4a71-8810-99db060f4a1e/Villa_Reitzenstein.html