4. Dezember 1974: Jean-Paul Sartre besucht Andreas Baader in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim
Am 4. Dezember 1974 besuchte der französischen Philosoph Jean-Paul Sartre den in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim einsitzenden Mitbegründer der Roten Armee Fraktion (RAF) Andreas Baader, um sich einen persönlichen Eindruck von dessen Haftbedingungen zu verschaffen.

Der Besuch Jean-Paul Sartres bei Andreas Baader ging auf eine Initiative des Stuttgarter Anwalts Klaus Croissant (1931-2002) zurück, der seit Anfang der 1970er Jahre die Verteidigung von Mitgliedern der RAF übernommen hatte. Mit seiner ursprünglich im WMF-Gebäude direkt an der Königstraße beheimateten Kanzlei zog er im September 1974 in eine Nebenstraße um. Die neue Wirkungsstätte in der Langen Straße 3 entwickelte sich zum Anlaufpunkt für eine Reihe von Rechtsanwälten, Unterstützern und das Sympathisantenumfeld der RAF.

Croissant besaß ein klares strategisches Bewusstsein, was die mediale Inszenierung der Anliegen seiner politischen Mandanten betraf. Im Herbst des Jahres 1974, auf dem Höhepunkt der Diskussionen um den Hungerstreik der einsitzenden RAF-Häftlinge, war er auf der Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit, die dabei helfen konnte, das Thema in der Öffentlichkeit zu platzieren. Nachdem bereits die Namen Jean-Luc Godard und Alberto Moravia kursiert hatten, gelang Croissant im November des Jahres 1974 der entscheidende Coup, als er mit Jean-Paul Sartre in Kontakt kam. Am 3. November 1974, also gut vier Wochen vor dem Besuch in Stuttgart-Stammheim, besuchte Croissant auf Vermittlung von zwei Redakteuren der „Libération“ Jean-Paul Sartre in dessen Pariser Wohnung am Boulevard Edgar Quinet. Das persönliche Zusammentreffen führte dazu, dass Sartre einen Besuchsantrag diktierte, den er über Croissant bei der Justiz einreichen ließ.

Über zwei Wochen später, am 18. November 1974, sprach sich Generalbundesanwalt Siegfried Buback (1920-1977), der wenige Jahre später selbst einem Attentat der RAF zum Opfer fallen sollte, in einem Schreiben an den für die Genehmigung zuständigen Vorsitzenden des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts in Stuttgart, Theodor Prinzing, gegen den geplanten Besuch aus. Seine Begründung zielte auf die intendierte öffentliche Wirkung: Sartre solle lediglich für die kriminellen Ziele der „Baader-Meinhof-Gruppe“ eingespannt und seine philosophische Autorität für den Kampf der RAF gegen die rechtsstaatliche Ordnung schamlos missbraucht werden. Buback äußerte zudem den Verdacht, Sartre könne bei dem Besuch als Geisel genommen werden. Der Generalbundesanwalt konnte sich trotz dieser massiv vorgetragenen Einwände nicht durchsetzen. Prinzing sprach sich für den Besuch aus: Zwar sprächen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Besuch Sartres nicht der Kommunikation, sondern agitatorischen Zwecken dienen solle. Eine Ablehnung aber sei die falsche Strategie, weil sie Sartres Wunsch Baader zu besuchen eine größere Aufmerksamkeit beimesse, als ihm tatsächlich zukomme.

Damit stand das Tor in Stammheim zumindest einen Spalt breit offen, und Sartre kam am Morgen des 4. Dezember 1974 auf dem Flughafen in Stuttgart an. Der Süddeutsche Rundfunk (SDR) hatte auf dem Vorfeld des Flughafens direkt am Flugzeug ein Kamerateam postiert, dessen Aufnahmen das Ereignis dokumentieren. Als Sartre, der entgegen der Erwartung nicht die Gangway, sondern den hinteren Ausgang der Maschine benutzte, als einer der letzten aus dem Flugzeug stieg, kam Bewegung in die wartende Menge. Sartre wurde von einer regelrechten Kamerameute umringt, die ihm in den Flughafenbus folgte und auch auf der Fahrt zum Terminal nicht von ihm abließ.

Der Bus brachte Sartre an das Eingangstor des Terminals, wo er von Croissant und Daniel Cohn-Bendit, dem damals bereits prominenten Agitator der französischen Studenten, in Empfang genommen wurde. Ohne Worte zu wechseln bahnte sich das Trio seinen Weg durch die immer noch heftig drängelnden Journalisten. Vor der Ankunftshalle des Flughafens stieg Sartre in den Peugeot Croissants, der von einem Mitarbeiter seiner Kanzlei gesteuert wurde. Bei dem jungen Mann mit halblangem Haar und einer ausgewaschenen Jeansjacke handelte es sich um Hans-Joachim Klein, der zu diesem Zeitpunkt noch Teil der „Sympathisanten“-Szene war, wenige Monate später aber an dem blutigen Attentat auf die OPEC-Konferenz in Wien beteiligt war. Im Fond des Wagens saß Croissant, vorne auf dem Beifahrersitz Sartre.

Vor den Toren der JVA Stuttgart-Stammheim bot sich dann wieder dasselbe Bild wie auf dem Rollfeld: Eine große Anzahl von Medienvertretern erwartete Sartres Ankunft. Die Berichterstattung in den Bild- und Printmedien produzierte wiederum jene bekannten Bilder, die in unzähligen Varianten bis heute verwendet werden, wann immer es um diesen Besuch geht: Sartre und Croissant an der Schranke bei dem Beamten, der die Pässe prüft, die beiden auf dem Weg vorbei an der Baustelle des schmucklosen Gebäudes, in dem nur wenige Monate später die Prozesse gegen die RAF beginnen sollten, Sartre neben Croissant aus der Ferne aufgenommen, wie sie Seite an Seite auf das Eingangstor zuschreiten.

An der etwa eine Stunde dauernden Unterredung zwischen Sartre und Baader durfte die Öffentlichkeit nicht teilnehmen. Das Zusammentreffen hat sich aber, soviel lässt sich aus den vorhandenen Quellen rekonstruieren, zäh gestaltet. Baader sprach kein Französisch, Sartre kein Deutsch – die meiste Zeit des Gesprächs ging wohl mit der Übertragung des jeweils Gesagten durch den amtlich bestellten Dolmetscher verloren. Wenige Tage nach dem Zusammentreffen mit Sartre verfasste Baader ein Schriftstück, das als sogenanntes „info“ bei den Mitgefangenen der RAF zirkulierte. In dem maschinenschriftlich verfassten Text beschimpfte er zunächst den Dolmetscher als „Kretin“, der nicht in der Lage gewesen sei, simultan zu übersetzen und auch die Begrifflichkeit nicht beherrscht habe. Es folgte eine negative Einschätzung Sartres, die vor allem auf dessen hohes Alter anspielte.

Nach dem Treffen mit Baader in der JVA verlagerte sich das Geschehen in den Saal 9 des Hotels Zeppelin schräg gegenüber dem Stuttgarter Hauptbahnhof, der die eigentliche Bühne für Sartres Auftritt bieten sollte. Die dortige Pressekonferenz stellte zweifellos den Höhepunkt des Besuchs dar, denn erst sie eröffnete jene Möglichkeiten, die die Strategen aus dem Umfeld der RAF eigentlich im Blick hatten: Durch das Fenster der Massenmedien konnte der berühmte Gast in die Welt hinaus sprechen. Im Saal herrschte bereits eine gespannte Atmosphäre: Auf der einen Seite des Raumes nahm hinter einem Tisch Sartre Platz, flankiert von seinen Begleitern Croissant und Cohn-Bendit. Der Stuttgarter Baader-Anwalt schilderte noch einmal die Schwierigkeiten, eine Besuchserlaubnis zu erlangen und gab dann eine Erklärung zum Hungerstreik ab, die von den ungeduldigen Journalisten immer wieder mit „Aufhören!“ und „Wir wollen Sartre hören“ unterbrochen wurde.

Nach Croissant sprach endlich der prominente Gast aus Frankreich, der zunächst Stellung zu den politischen Inhalten des Gesprächs am Nachmittag bezog: Baader habe ihm zu Beginn die Strategie der RAF auseinandergesetzt. Man wolle eine Verbindung mit den revolutionären Bewegungen der Dritten Welt herstellen, den politischen Einfluss der USA zurückdrängen und den „Kampf zwischen den Massen und dem Kapitalismus“ organisieren. Anschließend schilderte Sartre eingehend die Folgen der Haftbedingungen für seinen Gesprächspartner, die der Grund für dessen dramatisch schlechten gesundheitlichen Zustand seien. In diesem Zusammenhang fiel dann auch der Vorwurf von der „Folter“, den er wenige Tage später in einem Artikel der „Libération“ wiederholte. Es folgte die Verlesung einer Presseerklärung durch Hans-Christian Ströbele, damals einer der RAF-Verteidiger, dann durften sich die Journalisten direkt an Sartre wenden. Besonders bemerkenswert war dabei Sartres Antwort auf die Frage, warum er Andreas Baader und nicht Ulrike Meinhof besucht habe: Er hätte eben mit dem politischen Führer der Bewegung sprechen wollen und im Deutschen heiße es ja „Baader-Meinhof“ und nicht „Meinhof-Baader“.

Noch heute ist umstritten, ob Sartre mit seinen Aussagen zu den unzumutbaren Zuständen der Unterbringung in der JVA Recht hatte oder ob eher seinen Kritikern zuzustimmen ist, die monierten, dass die RAF-Gefangenen zahlreiche Privilegien und Sonderregelungen genossen. Das Urteil der anwesenden Journalisten war in dieser Hinsicht allerdings einhellig: Mehrheitlich taten sie den ganzen Besuch als Propagandatour eines überforderten, schon ein wenig senilen alten Mannes ab, der sich zu einem Werkzeug der Anwälte habe machen lassen.

Was Sartre selbst von der ganzen Aktion gehalten hat, lässt sich heute nur noch erahnen. Dass er sie wacher wahrgenommen hat, als viele Zeitgenossen annehmen wollten, zeigt ein rustikaler Ausspruch, den Daniel Cohn-Bendit vor einigen Jahren öffentlich gemacht hat, und den Sartre im Auto auf der Rückfahrt von Stammheim in die Innenstadt zur Pressekonferenz getan haben soll: „Ce qu’il est con ce Baader.“ Ob wahr oder nicht – nach allem, was man weiß, hatten Sartre und Baader, trotz der vermutlich intensiven Bemühungen des Dolmetschers, in jenen 60 Minuten der Besuchszeit keine gemeinsame Sprache gefunden.

So schnell Sartre nach Stammheim gekommen war, so schnell war er wieder abgereist – bereits kurz nach 18:00 Uhr, also unmittelbar nach der Pressekonferenz in der Innenstadt, war der Rückflug nach Paris angesetzt. Die Kürze des Aufenthalts stand in keinem Verhältnis zu den ihn begleitenden medialen Aufgeregtheiten. Sartre und Baader bestimmten an diesem Tag die Nachrichtenlage und waren allgegenwärtig – die abendlichen Fernsehnachrichten übertrugen die Bilder des Tages in die Wohnzimmer der Bundesrepublik, das baden-württembergische Justizministerium wies die auf der Pressekonferenz geäußerten Folter-Vorwürfe scharf zurück und Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU), der vier Jahre später über seine NS-Vergangenheit stolpern sollte, sprach im Hinblick auf den Besuch von einer Instinktlosigkeit gegenüber den Opfern.

Der Besuch Sartres in Stammheim war der Auftakt für die enge Beziehungsgeschichte der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim und der öffentlichen Wahrnehmung der RAF: Wenige Monate später, im Mai 1975, begann in Stammheim der Prozess gegen die Führungsebene der RAF, im Jahr 1976 wurde Ulrike Meinhof tot in ihrer Zelle aufgefunden, im Herbst 1977 folgte die „Todesnacht“ von Stammheim.

Text: Günter Riederer
Schlagwort: Stuttgart-Stammheim
Literaturhinweise:

Günter RIEDERER, Sartre in Stammheim, Marbach 2013.

Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Günter Riederer, 4. Dezember 1974: Jean-Paul Sartre besucht Andreas Baader in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/3a52a0ef-7e06-4198-a410-50c3ca741ef4/4._Dezember_1974%3A_Jean-Paul.html