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Das 1852 in Berg gegründete Unternehmen des Schlossers Gotthilf Kuhn (1819-1890) blühte bald auf, lieferte u.a. rund 40 % aller Dampfmaschinen in Württemberg und wuchs zur Weltfirma heran. Die Produktion wurde 1912 eingestellt.

Der in Grafenberg (heute Kreis Reutlingen) geborene Gotthilf Kuhn gründete im Jahre 1852 in Stuttgart-Berg eine mechanische Werkstätte, und zwar im Gaugerschen Bierkeller, Stuttgarter Straße 13 (heute Steubenstraße). Kuhn hatte das Schlosserhandwerk erlernt und viele Jahre in München, Wien und Berlin gearbeitet und gelernt. 30 Arbeiter waren nun hier beschäftigt, der „Maschinenpark“ bestand aus einer kleinen Dampfmaschine, zwei Bohr- und vier Hobelmaschinen, vier Drehbänken und 18 Schraubstöcken. Ferdinand Steinbeis und die württembergische „Zentralstelle für Gewerbe und Industrie“ förderten das junge Unternehmen. In Württemberg, wo die Industrialisierung gerade erst Fahrt aufnahm, stand Kuhn als Hersteller von Dampfmaschinen und -kesseln nahezu konkurrenzlos da und entwickelte sie in den folgenden Jahrzehnten ständig weiter. Kuhn lieferte zudem komplette Einrichtungen für Zuckerfabriken, Brauereien, Sägemühlen, Wasserwerke und ähnliche Betriebe.

Das Unternehmen wuchs schnell. Schon 1856 kam ein Neubau für die Kesselschmiede hinzu, 1857 eine eigene Gießerei. 1863 baute man auf dem Gelände eine kleine Gasfabrik. Die Eisengießerei stellte bald ein wichtiges Geschäftsfeld dar; Kuhn lieferte Teile für die Bahnhofsvorhalle in Ulm, die Synagoge in Düsseldorf und die Gewerbehalle in Stuttgart, aber auch Massenware wie Brunnensäulen, Gully- und Kanaldeckel.

Im Jahre 1856 kam ein junger Ingenieur zu Kuhn: der später berühmte Schriftsteller Max Eyth (1836-1906). Er arbeitete 1860 auch an einem Gasmotor, der jedoch im Hof der Fabrik dramatisch explodierte, wie er in seiner Autobiografie amüsant beschreibt. So schickte Kuhn seinen Mitarbeiter, quasi als Industriespion, nach Paris. Dort sollte er die Details des neuen Lenoirschen Gasmotors ganz genau studieren, um so das Kuhnsche Modell zu verbessern. Doch auch dies misslang, Kuhn gab das Projekt auf. 1861 verließ Eyth Berg wieder, um im Rheinland, in Belgien und in England sein Wissen zu vervollkommnen.

Einen zwiespältigen Einschnitt in der Firmengeschichte bedeutete der Großbrand in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli 1867. Zwar waren weite Teile des Werkes zerstört, doch es ergab sich so die Chance, ein modernes Fabrikgelände zu gestalten. Entlang der Straße erstreckte sich bald ein mehr als 120 Meter langes, mehrgliedriges Produktions- und Verwaltungsgebäude, dahinter entstanden nach und nach weitere Gebäude unterschiedlichster Größe, Art und Funktion. Die Produktpalette blieb extrem breit. Stolz zeigte man die vielfältigen Waren auf der wichtigen Gewerbeausstellung 1881 in Stuttgart – zwei Ehrendiplome, die höchste zu vergebende Auszeichnung, und besonderer königlicher Zuspruch waren der Lohn. 1887 wurde Kuhn mit Graugusszylindern für Motoren auch zum Automobilzulieferer, Besteller war kein Geringerer als Gottlieb Daimler. Für den goss die Kuhnsche Fabrik 1890 auch den ersten Vierzylinderblock der Welt, eine Konstruktion von Wilhelm Maybach.

Ab Mitte 1880er Jahre zeigte sich nach und nach ein branchentypisches strukturelles Defizit, das den Gewinn in Berg zwar noch nicht wesentlich schmälerte, mittelfristig jedoch zum Problem wurde: Kuhn produziert noch weitgehend Einzelanfertigungen, während spezialisierte Anbieter bereits zur Serienproduktion übergingen und schließlich konkurrenzfähiger wurden. 1889, Gotthilf Kuhn war inzwischen 70 Jahre alt, nahm er seinen Sohn Ernst als Teilhaber in das Unternehmen auf. Schon ein Jahr später starb der Vater. Mit ihm ging ein Unternehmerpatriarch. Schon 1855 hatte er eine Betriebskrankenkasse eingerichtet, früh in die Lehrlingsausbildung investiert. Er förderte das Vereinswesen in Berg und unterstützte etwa den 1856 gegründeten Gesangverein Vulkania, aus dem der Männergesangverein Berg hervorging. 1865 schuf Kuhn eine betriebseigene Sparkasse.

Unter Ernst Kuhn schrumpften die Gewinne aus den schon erwähnten Gründen, zusätzlich hatte man es auch noch mit einer erstarkenden Gewerkschaft zu tun. Um deren Forderung nach einem arbeitsfreien 1. Mai entgegenzutreten, förderte Ernst Kuhn die Gründung des „Verbandes württembergischer Metallindustrieller“ und wurde 1897 dessen erster Vorsitzender. Wegen seiner ungewöhnlich langen Dauer bemerkenswert ist ein Streik in der Kuhn-Filiale in Zuffenhausen im Jahre 1899: Arbeiter lehnten es beharrlich ab, Streikbrecherdienste zu verrichten – und verweigerten die Arbeit vom 8. Mai bis zum 1. August.

Um die Jahrhundertwende umfasste das Kuhnsche Areal in Berg ganze 5,4 Hektar. Mehr als 1200 Menschen arbeiteten nach wie vor hier. Kuhn hatte zu diesem Zeitpunkt rund 40 % aller Dampfmaschinen in Württemberg geliefert – und Hunderte in andere Länder. Aber der Niedergang war nicht aufzuhalten, auch weil Ernst Kuhn schwer erkrankte. Er musste das Unternehmen 1902 an die konkurrierende Maschinenfabrik Esslingen (ME) verkaufen. Er starb, gerade 50-jährig, 1903.

Die ME führte die Produktion noch einige Zeit weiter, verlegte dann Teile davon ins Stammwerk und schloss den Standort Berg 1912 ganz. Während des Ersten Weltkrieges dienten die leerstehenden Gebäude als „Gefangenen-Depot II“, in dem vor allem französische Kriegsgefangene untergebracht waren. Während der Weimarer Zeit entstand auf dem nordöstlichen Teil des Areals die Städtische Frauenklinik, die inzwischen hochwertigem Wohnungsbau weichen musste, und auf dem südwestlichen Teil die Stadthalle, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde (heute SWR). Auch die zentralen Fabrikgebäude litten im Bombenkrieg und wurden in den 1950er Jahren vollends abgerissen.

Text: Ulrich Gohl
Schlagwort: Stuttgart-Ost
Quellenhinweise:

[Ernst Kuhn], Zur Erinnerung an das Fünfzigjährige Bestehen der Maschinen- u. Kesselfabrik, Eisen- u. Gelbgießerei G. Kuhn Stuttgart-Berg, Stuttgart 1902.

Literaturhinweise:

E.[rnst] Brösamlen, Das schöne Stuttgart-Berg. Ein Heimatbuch, Stuttgart 1939, S. 32-35.
Max Eyth, Im Strom der Zeit. Bd. 1, Heidelberg 1904
[Wolfgang Friedrich], Maschinenfabrik G. Kuhn in Berg bei Stuttgart, in: Wolfgang Friedrich, 75 Jahre Graugießerei in Mettingen. Eine Jubiläumsschrift der Daimler-Benz AG Werk Untertürkheim, Stuttgart 1988, S. 5-17.
Ulrich Gohl, Maschinenfabrik von Gotthilf Kuhn, in: Ulrich Gohl, Made in S-Ost. Produzierende Betriebe im Stuttgarter Osten von den Anfängen bis heute, Stuttgart 2016, S. 134-144.
Klaus Herrmann, Gotthilf Kuhn, Unternehmer, Gründer der Maschinenfabrik und Eisengießerei in Stuttgart-Berg, 1819-1890, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken, 15. Bd., Stuttgart 1983, S. 254-279.
Gabriele Kreuzberger, Fabrikbauten in Stuttgart. Ihre Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1993, S. 179-188.
Hanns Steudel, Geschichtliche Entwicklung der Maschinenindustrie in Württemberg bis zum Weltkrieg, Tübingen Diss. 1923.

Publiziert am: 24.08.2020
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Gohl, Maschinenfabrik Kuhn, publiziert am 24.08.2020 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/36fbad33-c326-4fb4-8ffa-462a406f3356/Maschinenfabrik_Kuhn.html