In der Weimarer Republik wurde der brillante Jurist hoher Staatsbeamter und Unternehmensvorstand. Sein Verhandlungsgeschick setzte er unter den Nationalsozialisten ein, um vielen bedrängten jüdischen Glaubensbrüdern zur Emigration zu verhelfen.

Wer sich auf die Spuren Otto Hirschs begibt, wird in Stuttgart mehrfach fündig. Seit 2009 erinnert ein Stolperstein vor dem ehemaligen Wohnhaus am Gähkopf 33 an Hirsch und seine Frau Martha, die hier 1928 mit ihren drei Kindern eine Doppelhaushälfte bezogen hatten. Was als Familiensitz erbaut worden war, blieb doch nur Lebensstation, denn die Hirschs verließen Stuttgart in der NS-Diktatur, das Haus wurde 1939 verkauft und im Krieg teilweise zerstört. Neben dem Hinweis am letzten Wohnort finden sich Spuren des Wirkens und Nachwirkens, darunter die von der Stadt Stuttgart und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit 1985 gestiftete und alljährlich verliehene Otto-Hirsch-Medaille, seit 2013 Otto-Hirsch-Auszeichnung für Verdienste um die christlich-jüdische Zusammenarbeit. Dass seit 1958 die drei Brücken, die Hedelfingen und Obertürkheim verbinden, Otto Hirschs Namen tragen, ist symptomatisch, denn Otto Hirsch galt seinen Zeitgenossen als Mittler mit Brückenfunktion zwischen Menschen, Konfessionen und auch Interessen.

Wer war Otto Hirsch? Er war Deutscher schwäbischer Herkunft und jüdischer Religionszugehörigkeit. Geboren wurde er am 9. Januar 1885 als älterer von zwei Söhnen des Weingroßhändlers Louis Hirsch und seiner Ehefrau Helene, geb. Reis, in Stuttgart. Das Klima im Elternhaus war bildungsbürgerlich und liberal. Den Söhnen Otto und Theodor sollte eine optimale Ausbildung, zugleich aber Geborgenheit und Wärme vermittelt werden. Die Familie gehörte zum liberalen Stuttgarter Judentum, der Vater war lange Jahre Mitglied des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, zuletzt dessen stellvertretender Präsident. Die jüdische Gemeinde in Stuttgart war die größte im Land und im Geburtsjahr Otto Hirschs etwa 2500 Mitglieder stark. Im Südwesten war sie nach Mannheim die zweitgrößte jüdische Gemeinde, allerdings entstehungsgeschichtlich wesentlich jünger. Sie wuchs kontinuierlich und hatte 1933 4.900 Mitglieder. Die religiöse Bindung sollte für Otto Hirsch zeitlebens ebenso bedeutsam sein wie die emotionale an die schwäbische Heimat. Dazu war er deutscher Patriot. Als er 1902 17-jährig am Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasium die Reifeprüfung mit so vorzüglichem Resultat bestand, dass er die Abschlussrede halten durfte, wählte er als Vortragsthema „Das Deutschtum im Ausland“.

Otto Hirsch war deutscher Patriot, aber er war und blieb Jude. Und seine jüdische Identität konnte und wollte er der Berufskarriere nicht opfern. Deshalb nahm er vom ursprünglichen Berufswunsch des Gymnasiallehrers Abstand und studierte stattdessen ab dem Wintersemester 1902/03 Rechtswissenschaften. Wie damals üblich tat er dies an wechselnden Studienorten mit den Stationen Heidelberg, Leipzig, Berlin und schließlich Tübingen. Die vorlesungsfreie Zeit nutzte er zweimal zu Studienaufenthalten im Ausland, nämlich in Grenoble und in Oxford. 1903 unterbrach Hirsch sein Studium, um seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger beim Infanterie-Regiment 119 abzuleisten. 1907 bestand er in Tübingen sein erstes Staatsexamen mit Prädikat. Im Anschluss absolvierte er die Stationen des juristischen Referendariats und legte 1911, wiederum mit herausragendem Ergebnis, die zweite „große“ Staatsprüfung ab. 1912 promovierte Hirsch in Tübingen über „Die Baulasten im Sinne des Artikels 99 Absatz 3 der württembergischen Bauordnung vom 28. Juli 1910“, einer Arbeit, mit der er sich für seine späteren kommunalen Aufgaben empfahl. Entsprechend wechselte er nach knapp einjähriger Anwaltstätigkeit in der Kanzlei des mütterlichen Verwandten Dr. Richard Reis am 1. März 1912 als Ratsassessor – bald Rechtsrat – in den Dienst der Stadt Stuttgart. In seine Zuständigkeit fielen bau- und wasserrechtliche sowie Angelegenheiten der Elektrizitätswirtschaft. So befasste er sich etwa mit der vorstädtischen Siedlung Luginsland.

Hirsch erwarb sich sowohl durch Sachkompetenz als auch durch Umgänglichkeit, Uneigennützigkeit und hohe Belastbarkeit bald ein so großes Ansehen, dass er 1914 als unverzichtbarer Stadtbediensteter vom Frontdienst freigestellt wurde. Es war der Anfang einer glanzvollen Berufskarriere. 1919 erfolgte der Wechsel als Berichterstatter für Schifffahrtsfragen, Elektrizitätsversorgung und Wasserkraftnutzung in das württembergische Innenministerium und sehr rasch die Beförderung zum Ministerialrat. Im selben Jahr war Hirsch an der Ausarbeitung der die Schifffahrt betreffenden Artikel 97 bis 100 der Weimarer Reichsverfassung beteiligt, 1920 an den Pariser Verhandlungen über die Internationalisierung der Donau. Seinen weiteren Berufweg bestimmte das wohl bedeutendste Wirtschaftsprojekt im Südwesten jener Zeit, der Bau des Neckarkanals von Mannheim nach Plochingen, für dessen rechtliche Seite Hirsch zuständig war. Hier hatte er die Interessen der Länder Württemberg, Baden und Hessen auszutarieren – wahrlich keine leichte Aufgabe! Schon im Juli 1921 wurde Hirsch von der Generalversammlung der neu gegründeten Neckar AG mit der Geschäftsführung beauftragt und zwei Monate später, am 17. September 1921, zum Ersten Vorstandsmitglied gewählt. Solange die Umsetzung des Projekts in den Krisenjahren der Weimarer Republik nicht gesichert war, stand ihm die Rückkehr in den württembergischen Staatsdienst offen. Hirsch brachte das Projekt trotz immenser Probleme während der Weltwirtschaftskrise der Realisierung näher; den Abschluss 1935 erlebte er freilich nicht mehr im Amt. Er verlor es noch im Jahr der sogenannten „Machtergreifung“ 1933.

Wie verkraftet ein Mensch solch eine zutiefst verletzende Erfahrung? Hirsch kümmerte sich fortan verstärkt um die zunehmend bedrängten und hilfsbedürftigen Juden in ganz Deutschland. Ihm war der Zusammenhalt angesichts der Verfolgung wichtig, und wie so oft war er auch hier Brückenbauer. Hirsch war einerseits Mitglied des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der das assimilierte Judentum vertrat, hegte im Unterschied zu vielen Liberalen aber auch Verständnis für die zionistische Minderheit. Er war glaubwürdig, weil er sich für ein lebendiges Judentum stark gemacht und beispielsweise das Stuttgarter Lehrhaus Beit Hamidrasch mitbegründet hatte. Hirsch war seit 1930 Vorsitzender des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, von September 1933 an Geschäftsführer der neuen Reichsvertretung der deutschen Juden und Stellvertreter ihres Präsidenten Leo Baeck. Das Amt erforderte freilich seinen Umzug nach Berlin. Hirsch oblag ein immenses Aufgabenspektrum, darunter die Interessenvertretung gegenüber staatlichen Einrichtungen, die Wohlfahrtspflege, der Aufbau eigener Bildungseinrichtungen, Umschulungen, vor allem aber die Auswandererbetreuung. Er war Kontaktmann zu jüdischen Hilfsorganisationen im Ausland wie dem Council for German Jewry in Großbritannien und dem Joint Distribution Committee in den USA, zudem Delegierter der Reichsvertretung auf der ergebnislosen Flüchtlingskonferenz von Evian 1938. Mehrere Reisen führten ihn in die USA, nach Frankreich, Palästina und Großbritannien, um Emigrationsmöglichkeiten zu erkunden. Spätestens seit dem Novemberpogrom hielt er den durch viele Restriktionen behinderten Weg ins Ausland für den einzig rettenden. Selbst aber wollte er ihn nicht gehen, solange er seine Aufgabe als nicht erfüllt sah. Hinsichtlich der Folgen hegten er und seine Frau keinerlei Illusionen: „Wir werden hier sterben!“, äußerte Martha Hirsch 1939. Dennoch betonte Hirsch gegenüber dem Leiter des jüdischen Landschulheims in Herrlingen bei Ulm, „es steht uns nicht an, den Kopf hängen zu lassen“.

Otto Hirsch war seit dem 14. Mai 1914 mit der 1891 geborenen Stuttgarterin Martha Loeb verheiratet. Der Sohn Hans Georg (1916-2015) war 1938 in die USA, die Töchter Grete (geb. 1921) und Ursula (geb. 1925) waren Anfang 1939 nach Großbritannien emigriert. Zuletzt war es im Sommer 1941 Hirschs Vater Louis und dem Bruder Theodor gelungen, noch eine Passage nach Übersee erhalten. Der betagte Vater starb auf der Überfahrt, ohne je vom Tod seines älteren Sohnes erfahren zu haben. Otto Hirsch war am 26. Februar 1941 – ohne auch nur formalen Anlass – in Berlin festgenommen und zunächst im Gefängnis Alexanderplatz inhaftiert worden, von wo er schließlich am 23. Mai 1941 in das österreichische Konzentrationslager Mauthausen verbracht wurde. Im Totenbuch des Lagers ist er als Häftling Nr. 559 mit dem Todesdatum 19. Juni 1941 eingetragen, angeblich verstorben an einer Dickdarmentzündung. Die tatsächlichen Todesumstände sind wohl nicht mehr zu klären. Wie die meisten Vorstandsmitglieder und Beschäftigten der seit 1939 der Gestapo unterstellten Reichsvereinigung bezahlte Otto Hirsch seinen Einsatz für so viele verfolgte deutsche Juden mit dem Leben. Seiner Ehefrau Martha widerfuhr das gleiche Schicksal. Sie wurde am 26. Oktober 1942 deportiert und starb drei Tage später in Riga.

An Otto Hirsch wird in seiner Heimatstadt Stuttgart, aber auch in Berlin erinnert. Am jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße wurde 1970 eine Messingtafel enthüllt, 2016 ein Stolperstein am letzten Wohnort der Familie in der Königsallee 35 in Charlottenburg-Wilmersdorf verlegt.

Text: Angela Borgstedt
Schlagwort: Stuttgart-Nord
Literaturhinweise:

Paul Sauer, Für Recht und Menschenwürde. Lebensbild von Otto Hirsch (1885-1941), Gerlingen 1985.
Angela Borgstedt, Otto Hirsch, in: Württembergische Biographien 1 (2006), S. 113 f.
Mari-Dominique Fernow, Otto und Martha Hirsch, http://www.stolpersteine-stuttgart.de/index.php?docid=639 [zuletzt aufgerufen am 29.09.2017].
Otto-Hirsch-Auszeichnung, http://www.stuttgart.de/otto-hirsch-auszeichnung [zuletzt aufgerufen am 29.09.2017].

GND-Identifier: 118800442
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Angela Borgstedt, Otto Hirsch (1885-1941), publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/2011278a-7f33-4bbb-b551-b324cc49a613/Otto_Hirsch_%281885-1941%29.html