Gustav Schmoller war ein Ökonom, Sozialpolitiker und Wissenschaftsorganisator, der früh sozialstaatliche Ideen vertrat und als Kopf der „Historischen Schule“ der Nationalökonomie gilt. Wichtige Impulse empfing er 1862 im Statistischen Büro in Stuttgart.

Gustav Friedrich Schmoller (ab 1908 von Schmoller), geboren 1838 als Sohn eines Heilbronner Kameralverwalters, studierte von 1857 bis 1861 an der Universität Tübingen Kameralistik. Dieser wirtschafts- und staatswissenschaftliche Studiengang stellte ihm die gleiche Beamtenposition in der höheren Finanzverwaltung in Württemberg in Aussicht, wie sie sein Vater besaß. Das Referendariat absolvierte Schmoller unter anderem in Stuttgart im statistischen Amt des Königreichs Württemberg, dem „Statistisch-topgraphischen Bureau“.

Statt in die erwartete Beamtenlaufbahn einzutreten, übernahm Schmoller, der 1861 fast nebenher auch promoviert hatte, aus verschiedenen Gründen und nach einer beruflichen Findungsphase im Jahr 1864 eine nationalökonomische Professur an der Universität Halle. In den politischen Konflikten um die deutsche Einigung, die in dieser Zeit tobten, setzte er sich öffentlich für die kleindeutsche Lösung unter Vorherrschaft Preußens ein. Berühmt wurde er aber nicht durch sein nationales, sondern durch sein sozialpolitisches Engagement. In den industriellen „Gründerjahren“ um 1870 brachten Schmoller und eine Reihe gleichaltriger, mit ihm befreundeter Wirtschaftsprofessoren Fragen wirtschaftlicher Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Integration auf die Tagesordnung. Sie standen damit in scharfem Gegensatz zu wirtschaftsliberalen Verfechtern eines abstrakten Markt- bzw. „Laissez-faire“-Denkens, von denen sie als „Kathedersozialisten“ bezeichnet wurden.

1872 begründeten sie in Eisenach den „Verein für Socialpolitik“, der sich im Kaiserreich zu einer renommierten politischen und sozialwissenschaftlichen Institution entwickelte. Im gleichen Jahr siedelte Gustav Schmoller nach Straßburg über. Dort intensivierte er seine wirtschaftshistorischen Studien, für die er immer mehr Zeit in Archiven zubrachte. Seiner „Jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie“ wird von späteren Ökonomen vorgeworfen, in Deutschland eine mathematisch-modellbezogene Entwicklung der Volkswirtschaftslehre, wie sie in benachbarten Ländern vorangetrieben wurde, verhindert zu haben. Der „Methodenstreit“ mit dem Österreicher Carl Menger (1840-1921), der in diesem Zusammenhang meistens angeführt wird, zeigt zwar, dass Schmoller ein zutiefst pluralistisches Fachverständnis verfocht, in dem unterschiedliche Ansätze prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander existieren konnten. Doch je größeres Gewicht er als Fachvertreter in Deutschland errang, desto mehr Chancen bekam die „Historische Schule“, sich als Paradigma an den Universitäten durchzusetzen.

Mit seiner Berufung nach Berlin (1881/82) stieg Schmollers Prestige deutlich; nur wenige Sozialwissenschaftler und Wissenschaftspolitiker haben über so viele Einflusskanäle verfügt wie er. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift ist heute noch als „Schmollers Jahrbuch“ bekannt. Neben dem Verein für Sozialpolitik initiierte er als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften großangelegte Akteneditionen. Politisch nationalliberal bzw. liberalkonservativ, saß Schmoller im preußischen Staatsrat und im Herrenhaus, hatte zentralen Anteil an zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der „Staatswissenschaftlichen Gesellschaft“ oder der „Gesellschaft für soziale Reform“ und verfügte über gute Kontakte ins Kultusministerium und zeitweise auch zum Reichskanzler. Nach einer Reihe von Ehrungen, Titel- und Ordensverleihungen wurde der Siebzigjährige 1908 in den Adelsstand erhoben. In der Öffentlichkeit äußerte er sich noch in seinen letzten Lebensjahren zur parlamentarischen Demokratie, zur Sozialdemokratischen Partei und zum Weltkrieg. Seine Stellungnahmen zu Fragen des Antisemitismus, der Kolonial- und Machtpolitik werden heute eher kritisch beurteilt.

Obwohl sein Stuttgarter Aufenthalt in Schmollers eigenen Jugenderinnerungen kaum eine Rolle spielt, darf das „Statistisch-topographische Bureau“ als prägende Station seiner Biografie nicht unterschätzt werden. Zum einen leitete Gustav Rümelin (1815-1889) dieses Büro, ein Veteran der Paulskirche von 1848, der von 1856 bis 1861 württembergischer Kultusminister war, bevor er Chef der Statistik wurde und ab 1870 als Kanzler der Tübinger Universität fungierte. In Stuttgart verkehrte Schmoller täglich mit dem von ihm verehrten, philosophisch und politisch hochgebildeten Chef, mit dem er sogar verschwägert war –Rümelin hatte 1847 Schmollers Schwester Marie geheiratet –, und dem er 1907 einen umfangreichen Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie widmete.

Zum anderen erhielt Schmoller im Statistischen Büro 1862 erste Einblicke in die Praxis empirischer Forschung, die Organisation von Datenerhebungen, den Umgang mit Zahlenmaterial, das Berechnen von Tabellen. An der Tübinger Universität war dazu wenig gelehrt worden; „Empirische Sozialforschung“ als Vorlesungsthema gab es damals nicht. Das Statistische Büro indessen, das bislang vor allem für kartografische Kreisaufnahmen und Kreisbeschreibungen zuständig gewesen war – also landeskundlichen Darstellungen, die neben statistischen Daten auch historische Abrisse und Ähnliches enthielten –, führte in den 1860er Jahren großangelegte und standardisierte statistische Erhebungen durch. Diese wurden im Zuge der Angleichung und Modernisierung der deutschen Einzelstaaten nötig.

Schmoller half als Stuttgarter Beamter mit der offiziellen Bezeichnung „Finanzreferendär“ bei einer gewerbestatistischen Aufnahme, die er für ein breites Publikum ausführlich kommentierte. Er beobachtete und beschrieb den wirtschaftlichen Wandel, der damals sichtbar wurde, diskutierte Folgen der Technisierung, des Aufkommens von Aktiengesellschaften und Börsenspekulation, der Entwicklung der Großindustrie und neuer Wirtschaftseliten, der Verdrängung des Mittelstandes sowie die Gefahr von Klassenkonflikten – bleibende Themenschwerpunkte in seiner intellektuellen Biografie. Man kann in dieser Stuttgarter Veröffentlichung, die tiefgehender ist, als es ihr Titel vermuten lässt, sogar den direkten Vorläufer von Schmollers Monografie „Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert“ (1870) sehen, die ein Standardwerk des „Kathedersozialismus“ wurde.

Gustav Schmollers Gesamtwerk wird einerseits durch spezialisierte Archivstudien zur preußischen Geschichte repräsentiert, andererseits durch einen breiten, nicht rein wirtschafts-, sondern sozialwissenschaftlichen, empirisch-statistischen und zeitdiagnostischen Ansatz, der in diesen frühen Arbeiten entwickelt wird. Seine bekanntesten Publikationen sind neben der eben erwähnten Monografie sein Buch „Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirthschaft. Ein offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke“ (in zwei Teilen 1874/75), ein Handbuchartikel über „Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode“ (1893) sowie sein Hauptwerk, der zweibändige „Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ (1900/1904), der anthropologische, historische, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Perspektiven integrierte.

Schmollers Wirkung endete relativ bald nach seinem Tod; sein historisch-ethischer Ansatz der Volkwirtschaftslehre und seine großbürgerlichen, von Monarchietreue geprägten politischen Auffassungen konnten nach den Weltkriegen keine größere Bedeutung mehr erlangen.

Text: Jens Herold
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Quellenhinweise:

Gustav Schmoller, Die Resultate der pro 3. Dezember 1861 aufgenommenen Gewerbestatistik [auch unter dem Titel: Systematische Darstellung der Ergebnisse dieser Gewerbeaufnahme], in: Die Ergebnisse der zu Zollvereinszwecken im Jahre 1861 in Württemberg stattgehabten Gewerbeaufnahme, Bd. 2. Württembergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie (1862), S. 161-291, hier S. 161, S. 232-239 u. 282-287.

Literaturhinweise:

Martin Burkhardt, Das Statistisch-topographische Bureau und die württembergischen Oberamtsbeschreibungen 1824 bis 1930, in: ZWLG 64 (2005), S. 228-260.
Erik Grimmer-Solem, The rise of historical economics and social reform in Germany 1864-1894, Oxford 2003.
Jens Herold, Der junge Gustav Schmoller. Sozialwissenschaft und Liberalkonservatismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 2019.
Heinz Rieter, Gustav von Schmollers Erinnerungen an seine Jugendzeit, in: heilbronnica 4. Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, hg. von Christhard Schrenk und Peter Wanner, Heilbronn 2008, S. 323-350.

GND-Identifier: 118609378
Publiziert am: 30.10.2024
Empfohlene Zitierweise:
Jens Herold, Gustav von Schmoller (1838-1917), publiziert am 30.10.2024 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/18aa3ddb-70c0-42b9-8ec1-dfae9410d9c2/Gustav_von_Schmoller.html