Die Weißenhofsiedlung wurde 1927 als experimenteller Wohnbau errichtet und im Sommer 1927 zunächst als ein Teil der Werkbundausstellung „Die Wohnung“ gezeigt. Die Siedlung des Neuen Bauens wurde dank internationaler Resonanz richtungsweisend für die Moderne.

Die Werkbundausstellung „Die Wohnung“ öffnete am 23. Juli 1927 ihre Tore. Von der vierteiligen Ausstellung sind die experimentellen Siedlungsbauten, die als städtisch finanzierter Wohnungsbau errichtet und später vermietet wurden, als einziger Teil über die Ausstellungszeit hinaus erhalten geblieben, sie tragen heute den Namen Weißenhofsiedlung. Der Name hat entgegen häufiger Vermutungen nichts mit der Farbe Weiß zu tun, sondern geht auf ein Hofgut zurück, das der Bäckermeister Georg Philipp Weiß seit 1779 betrieb und später zu einem beliebten Ausflugslokal ausbaute.

Entscheidenden Anteil an der Umsetzung des Vorhabens hatte der Heilbronner Silberwarenfabrikant Peter Bruckmann (1865-1937), der als Gründungsmitglied und Erster Vorsitzender des Deutschen Werkbundes (DWB) auch politisch in Württemberg sehr gut vernetzt war. Der DWB war 1907 von Künstlern, Handwerkern und Industriellen gegründet worden, um im Zusammenspiel hochwertige und formal reduzierte Produkte industriell zu fertigen. Neben der ästhetischen Erziehung der Bevölkerung hatte die Vereinigung auch die Förderung deutscher Produkte auf dem Weltmarkt zum Ziel.

Am 30. März 1925 beschloss der Gesamtvorstand des DWB für den Sommer 1926, eine Ausstellung mit dem Titel „Die Wohnung“ in Stuttgart vorzubereiten, um Lösungen für das Problem der herrschenden Wohnungsnot durch innovative Konzepte aufzuzeigen. Bereits Anfang Mai 1925 erging dann seitens des Stadtschultheißenamtes die Einladung zu einem Gespräch „wegen Durchführung eines besonderen Bauprogramms“ an Gustaf Stotz (1884-1940), den Geschäftsführer der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft des DWB, den anfangs noch beteiligten Bau- und Heimstättenverein, die Ausstellungs- und Tagungsstelle der Stadt und einige Gemeinderäte. Bei dieser Zusammenkunft wurde eine generelle Zustimmung erreicht.

Im Sommer 1925 verhandelte dann Gustaf Stotz mit Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969), dem Zweiten Vorsitzenden des DWB, über dessen Beauftragung als künstlerischer Leiter des Projektes. Am 8. Oktober 1925 konnte er der Stadt schließlich seinen Erfolg mitteilen. Gemeinsam mit dem später nicht mehr beteiligten Hugo Häring hatte Mies van der Rohe binnen kürzester Zeit einen Bebauungsplan entwickelt, der zusammen mit einem Modell am 16. Oktober 1925 dem Gemeinderat präsentiert wurde. Bei den Fachkollegen und den Gemeinderäten überwogen allerdings schwere Bedenken. In dieser Sitzung informierte man auch über die Verschiebung der Ausstellung auf den Sommer 1927.

Erst am 29. März 1926 gelang es, im Rahmen der Abstimmung zum Wohnbauprogramm 1926 eine grundsätzliche Zustimmung zur Finanzierung der Werkbundsiedlung zu bekommen. Im Protokoll zu dieser Sitzung ist eine Quotenregelung für die zu beauftragenden 15 Architekten überliefert: 2/5 Stuttgart, 2/5 Auswärtige und 1/5 Ausländer. Die befürchtete und später auch eingetretene, geringe Beteiligung der renommierten Stuttgarter Architekten hatte zu diesem Schritt geführt. Anschließend begann die Berichterstattung über die Planung und damit auch die öffentlich ausgetragene Kontroverse. Am 5. Mai 1926 erschien im Schwäbischen Merkur unter dem Titel „Noch einmal die Werkbundsiedelung“ ein Artikel von Paul Bonatz (1877-1956), in dem der wirkmächtige Satz „eher an eine Vorstadt Jerusalems erinnernd als an Wohnungen für Stuttgart“ zu lesen war.

Das Vorprojekt wurde in mehreren Schritten umgeplant und, nachdem der Bauausschuss die Entscheidung verweigerte, am 29. Juli 1926 vom Gemeinderat mit einer relativ klaren Mehrheit befürwortet. Die Grundidee des Entwurfs blieb erhalten: Kubische Baukörper mit Flachdach, die die vorhandene Topografie überhöhen und so versetzt sind, dass jede Wohnung gut belichtet wurde und zugleich die Aussicht in das Neckartal hatte. Als höchstes und größtes Gebäude steht das Mehrfamilienhaus von Mies van der Rohe an der höchstgelegenen Stelle der Siedlung. Des Weiteren wurde darauf geachtet, dass alle Hausarten von Einfamilien-, Doppel-, Reihen- bis Mehrfamilienhäusern vertreten waren.

Mit Überlegungen zur Vergabe der Gebäude begann Mies van der Rohe im September 1926. Allerdings wurde erst am 13. November 1926 die zehnte und letzte Liste der zu beteiligenden Architekten vom Gemeinderat angenommen. Damit konnten die Aufträge endlich erteilt und mit den Planungen der einzelnen Gebäude begonnen werden. Am Weißenhof bauten (in der Reihenfolge des Protokolls): Mies van der Rohe, JJP Oud, Adolf G. Schneck, Le Corbusier, Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Bruno Taut, Hans Poelzig, Richard Döcker, Max Taut, Hans Scharoun, Mart Stam, Peter Behrens und Adolf Rading, unabsichtlich vergessen wurde Josef Frank. Nicht genannt in dieser Aufzählung sind Pierre Jeanneret als Partner von Le Corbusier und Victor Bourgeois, der das nachträglich in die Ausstellung aufgenommene Haus von Walter Boll baute. Sämtliche Architekten waren Vertreter des Neuen Bauens, sodass Mies van der Rohe nur wenige Gestaltungsvorgaben zu machen brauchte. Lediglich das Flachdach als Merkmal einer abstrakten internationalen Kunst wurde verbindlich vorgegeben.

Während die Planungen und Diskussionen im Vorfeld sehr viel Zeit in Anspruch nahmen, war die Bauzeit extrem kurz. Der erste Spatenstich erfolgte am 1. März 1927, die um zwei Wochen verschobene Eröffnung fand am 23. Juli 1927 statt. Richard Döcker, neben Adolf G. Schneck der zweite beteiligte Stuttgarter Architekt, hatte die technische Bauleitung übernommen. Die experimentellen Bauweisen – man setzte ausdrücklich neue Materialien ein – und die schleppend eintreffenden Ausführungspläne sowie der enge finanzielle Rahmen und Absagen bereits beauftragter Unternehmen erschwerten den Bau der Häuser erheblich.

Obwohl bei der Eröffnung noch nicht alle Gebäude fertig waren, wurde die Ausstellung auch dank der hervorragenden Pressearbeit zu einem großen Erfolg. Das geplante Ende verschob man wegen des Besucherandrangs vom 9. Oktober auf den 31. Oktober 1927, knapp 500.000 Besucher sahen sich die weitgehend eingerichteten Häuser an. Neben dem Experimentiergelände, das sich direkt an die Siedlung anschloss, waren in der Innenstadt noch die Internationale Plan- und Modellausstellung in dem 1925 erbauten Ausstellungsgebäude am Interimstheaterplatz (heute steht hier der Landtag) und die Hallenausstellung zur Einrichtung des Hauses in den Gewerbehallen im Stadtgarten (heute befindet sich hier die Universitätsbibliothek) zu sehen.

Die schon während der Planung immer wieder drastisch geäußerte Kritik an der Siedlung setzte sich fort, zumal sich die Vermietung der ungewöhnlichen städtischen Häuser auch wegen der hohen Mieten schwierig gestaltete. Zeigten sich die Kommentare anfangs noch mit einem Augenzwinkern wie in den Karikaturen zu „Neue Lebensformen“, wurden sie später immer aggressiver. Die Collage der Siedlung als Araberdorf, ab 1933 mehrfach publiziert, ist bis heute bekannt.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erhöhte sich der Druck auf die Architekten des Neuen Bauens, sie wurden diffamiert und von Bauaufträgen ausgeschlossen. Die Weißenhofsiedlung als international anerkanntes Manifest des Neuen Bauens, 1932 in der New Yorker Ausstellung „Modern Architecture. International Exhibition“ gezeigt, sollte durch einen repräsentativen Neubau der neuen Machthaber ersetzt werden. Zunächst versuchte der nationalsozialistische Oberbürgermeister Karl Strölin 1937, den Reichssender für das Grundstück zu gewinnen. Nach dessen Absage konnte mit einem Gebäudekomplex für das Generalkommando V ein Ersatz gefunden werden. 1938 fand ein eingeladener Wettbewerb für die Kasernenanlage statt, zu dem die konservativen Stuttgarter Architekten Paul Bonatz und Paul Schmitthenner ebenso wie die modernen Adolf G. Schneck und das Büro Eisenlohr & Pfennig, das sich mit dem Breuninger-Hochhaus zum Neuen Bauen bekannt hatte, eingeladen wurden. Eine Arbeitsgemeinschaft um Ernst Horsch gewann den Wettbewerb und in der Folge verkaufte die Stadt am 31. Juli 1939 das Gelände an den Reichsfiskus. Die Siedlung wurde entmietet, aber nicht wie geplant abgerissen, da durch den Kriegsverlauf der Standort hinfällig geworden war. Bei den Luftangriffen 1944 wurden zehn der Gebäude teilweise schwer zerstört.

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 ging die Weißenhofsiedlung in Bundesbesitz über und ist es überwiegend noch heute. Das ehemalige Haus Döcker in der Rathenaustraße 9 kam bereits Ende der 1940er Jahre in Privatbesitz, 2002 erwarb die Stadt Stuttgart das Doppelhaus Le Corbusier, um das 2006 eröffnete Weissenhofmuseum einzurichten, und das unbebaute Grundstück Bruckmannweg 10 (aktuell steht hier das Aktivhaus B 10).

Die Wiederaufbauplanungen des Bundes orientierten sich trotz massiver Proteste seitens der Stadt nicht an der Gestaltung der Weißenhofsiedlung, sondern setzen auf konventionellen Wohnbau. Hierfür wurden auch wenig zerstörte Gebäude abgerissen. Die Verfremdung des Hauses von Peter Behrens durch ein aufgesetztes Satteldach steht stellvertretend für diesen Umgang. Erst die 1955 bekannt gewordenen Pläne zum Abriss des Einfamilienhauses von Le Corbusier konnte eine Wende bewirken. Die alarmierte Fachwelt wandte sich an den Bundespräsidenten Theodor Heuss, der als ehemaliger Geschäftsführer des Werkbunds seinen Einfluss geltend machte. Unter dem politischen Druck wurde 1956 die Sanierung des Einfamilienhauses beschlossen und die Weißenhofsiedlung im August 1958 in das Landesverzeichnis der Kulturdenkmale eingetragen.

Der Umgang mit dem Architekturerbe blieb für viele Jahre unangemessen, auch wenn es immer wieder Initiativen für eine Instandsetzung gab. Der steigende öffentliche Druck führte zu der ersten umfassenden Sanierung in den Jahren 1981 bis 1987, die bis heute das Bild der Siedlung prägt. Seit 2016 sind die beiden Stuttgarter Häuser von Le Corbusier und Pierre Jeanneret zusammen mit 16 weiteren Gebäuden und Ensembles der Architekten als Welterbe der UNESCO eingetragen.

Text: Inken Gaukel
Schlagwort: Stuttgart-Nord
Quellenhinweise:

Stadtarchiv Stuttgart Depot B, 11/584.
Stadtarchiv Stuttgart Depot B, 11/585.
Stadtarchiv Stuttgart Depot B, 11/586.

Literaturhinweise:

Karin Kirsch, Die Weißenhofsiedlung. Werkbundausstellung „Die Wohnung“ – Stuttgart 1927, Stuttgart 1987.
Jawiga Urbanik (Hg.), Der Weg zur Moderne. Werkbund-Siedlungen 1927-1932, Wroclaw 2016.
Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier, hg, von der Landeshauptstadt Stuttgart und der Wüstenrot Stiftung, Stuttgart und Ludwigsburg 2008.

GND-Identifier: 4106354-5
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Inken Gaukel, Weißenhofsiedlung, publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/0ee5a3a5-43bb-478a-b42c-deaa42e89050/Weissenhofsiedlung.html