Der Künstler Reinhold Nägele setzte sich in seinen Werken intensiv mit Stuttgart im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auseinander. Er entwickelte einen unverwechselbaren sachlich-erzählerischen Stil mit oft minutiöser und humorvoller Detailschilderung.

Der Maler und Grafiker Reinhold Nägele zählt zu den herausragenden Künstlerpersönlichkeiten des deutschen Südwestens im 20. Jahrhundert. Seine meist kleinformatigen Orts- und Landschaftsansichten, surreal-fantastische Bildfindungen und seine Darstellungen verschiedener zeitgeschichtlicher Ereignisse zeichnen sich durch eine detaillierte, bis ins Skurril-Humorvolle reichende Schilderung aus. Zeitlebens war der Künstler mit der Stadt Stuttgart eng verbunden und brachte sowohl die urbane Umgebung als auch das zeitgenössische Leben dieser Großstadt ins Bild.

Nägele wurde in Murrhardt, einer Kleinstadt nordöstlich von Stuttgart, geboren und wuchs in Stuttgart auf. Er absolvierte dort eine Ausbildung zum Dekorationsmaler im väterlichen Betrieb und besuchte während der Lehrzeit die Stuttgarter Kunstgewerbeschule. Von 1905 bis 1909 war er als Dekorations- und Kirchenmaler in Berlin tätig. Dieser Aufenthalt führte zu zwei Einzelausstellungen beim einflussreichen Berliner Kunsthändler Paul Cassirer. Zurück in Stuttgart wurde er mit zwei Gemälden von 1909, „Schwäbische Hochzeit“ und „Cannstatter Volksfest“, in der heimischen Region bekannt. Er wählte bei beiden Werken die Vogelschau – eine Perspektive, die der Künstler sehr oft für seine Werke benutzte und welche als charakteristisch für ihn gilt. Die erste Ausstellung in Stuttgart fand im Jahre 1911 im Kunstverein statt. 1910/1911 hielt sich Nägele in München auf und erlernte bei seinem Freund Jakob Wilhelm Fehrle die Radierkunst, die er bis 1933 mit Unterbrechungen ausüben sollte.

In der Vorkriegszeit wählte Nägele neben biografisch motivierten Szenerien viele Sujets, die seine urbane Umwelt abbilden – angefangen bei Ansichten der Stadt Stuttgart, über die Ereignisse auf dem Cannstatter Wasen bis hin zu Gebäude- und Baustellendarstellungen. Im Jahr 1915 wurde Nägele zum Landsturm eingezogen und war während des Ersten Weltkrieges in Stuttgart, Böblingen und Diest in Belgien stationiert. Dabei hatte er weiterhin Gelegenheit, das Zeichnen und Malen weiterzuverfolgen. Im Jahr 1919 kehrte er dann nach Stuttgart zurück.

Die revolutionären Unruhen, die das Deutsche Reich 1918/1919 erfassten, inspirierten Nägele zu den sogenannten „Revolutionsbildern“. In diesen Werken brachte Nägele die Dynamik, die Gefahr und die akute Ausnahmesituation dieser Unruhen zur Darstellung. Das Temperagemälde „Revolution VIII. Lazarett“ von 1919 beispielweise zeigt Patienten auf Tragen, in Krücken und in Betten sowie weitere Menschen vor dem damaligen Gebäude des Stuttgarter Katharinenhospitals; Nägele interessierte sich nicht für die präzise Darstellung der örtlichen Begebenheiten, sondern konzentrierte sich auf das hektische Treiben vor dem Krankenhaus.

Nach der von 1911 bis 1920 andauernden Beziehung mit der gefeierten königlichen Hofschauspielerin Anna Eichholz, welche ihn in dieser Zeit in die Welt des Theaters eingeführt hatte, heiratete Nägele 1921 die Ärztin für Hautkrankheiten Alice Nördlinger. Reinhold Nägele zog in ihre Wohnung mit Praxisräumen in der Schlossstraße 12 A, wo sie dann mit den drei in den Folgejahren geborenen Söhnen lebten.

Nägele beteiligte sich als Mitglied und Mitbegründer der „Stuttgarter Secession“, die sich 1923 vom akademisch geprägten Künstlerbund Stuttgarts abgespalten hatte, aktiv am damaligen Ausstellungswesen. Hier war er an der Jurierung, der Organisation und der Einrichtung von Ausstellungen sowie an Ausstellungskatalogen dieser Künstlervereinigung beteiligt. In drei aufeinander bezogenen Temperamalereien von 1928 kommentierte Nägele das Ausstellungsverfahren im provisorischen, von Bernhard Pankok erbauten Kunstausstellungsgebäude auf dem ehemaligen Interimstheaterplatz. Mit der Orientierung an wahren Personen und Begebenheiten – in der „Eröffnung der Stuttgarter Sezessions-Ausstellung“ ist etwa der damalige Kultusminister Wilhelm Bazille am Rednerpult zu identifizieren – zeigt sich in diesen Werken Nägeles humorvoller Blick auf den Ausstellungsbetrieb. Verloren und skurril zugleich wirken die winzigen Personen in dem übertrieben hoch dargestellten Raum.

In den 1920er Jahren entstanden zahlreiche Gemälde, in denen der Künstler sein Augenmerk auf den Wandel des Stuttgarter Stadtbilds legte. Nägele malte den 1928 fertiggestellten Tagblattturm in der Eberhardstraße sowie die 1927 errichtete Weißenhofsiedlung am Killesberg – zwei Architekturprojekte, die den Ruf Stuttgarts als einer modernen Baukonzepten gegenüber aufgeschlossenen Stadt festigten. Reinhold Nägele beobachtete über Jahre hinweg auch die Verlegung des Bahnhofs (1914-1928). Mehrere Gemälde Nägeles halten den neuen Hauptbahnhof von Paul Bonatz an der Schillerstraße, dem heutigen Arnulf-Klett-Platz, in seinen verschiedenen Bauphasen fest. Der Künstler dokumentierte auch den Abbruch des alten Bahnhofs an der Schlossstraße (heute Bolzstraße), der ab 1922 bis auf einzelne Fassadenteile zurückgebaut wurde. Eine Radierung Nägeles von 1926 zeigt den Bahnhofsvorplatz, in der der Verkehr und die technische Infrastruktur im Vordergrund stehen.

Nägeles Baustellenansichten verdeutlichen, dass Nägele sich nicht nur für die heute berühmten Bauten interessierte, sondern auch für ihren Entstehungsprozess. Beispielhaft hierfür ist auch die Baustelle des Mittnachtbaus, die Nägele 1926 malte. Die geschäftigen Bauarbeiter, das Durcheinander von Fahrzeugen, Bauwagen, Baumaterialien und Werkzeugen illustrierte der Künstler mit der ihm typischen Freude am Narrativen und Anekdotischen.

Im Kontext der politischen Ereignisbilder aus den 1920er Jahren sticht „Parteipanorama“ von 1925 heraus, ein Temperagemälde, welches lange Zeit im Bonner Arbeitszimmer des Bundespräsidenten Theodor Heuss hing. Die surreale Hügellandschaft verbildlicht auf eindringliche Weise das Kräfteringen der unterschiedlichen politischen Parteien in der Weimarer Republik.

Nägeles herausragende „Aussicht vom Bahnhofsturm auf die nächtliche Königstraße und Umgebung“ von 1930 dokumentiert in detailreicher und akkurater Malweise die prominente Einkaufsstraße Stuttgarts aus der Vogelperspektive. Mit stimmungsvollen Nachtansichten dieser Art gibt Nägele einen Eindruck der beleuchteten Stadt und somit auch des Elektrifizierungsprozesses im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Die Folgen der Machtübernahme der Nationalsozialisten stürzte die Familie Nägele in eine finanzielle Notlage. Alice Nägele, die der Familie zuvor mit ihrer Praxis ein regelmäßiges Einkommen beschert hatte, verlor 1933 aufgrund ihres jüdischen Glaubens ihre Kassenzulassung. Alfred Mörike, der Direktor des Süddeutschen Spinnweberverbandes, gründete einen Freundeskreis, der Reinhold Nägele durch die Abnahme von Bildern finanziell unterstützte. In den Folgejahren dominierten in Nägeles Œuvre Ortsansichten und Stillleben, die als Auftragsarbeiten für seine Unterstützer entstanden. 1937 wurde Nägele dann aufgrund seiner Ehe mit einer Jüdin aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen und erhielt ein Berufs- und Ausstellungsverbot. Die Söhne wurden nacheinander über eine Hilfsorganisation in England untergebracht. Reinhold und Alice Nägele zogen 1938 nach Murrhardt, bevor sie dann im Jahr 1939 ihren Söhnen folgten. Die Familie emigrierte 1940 in die USA und ließ sich in New York nieder. Reinhold Nägele arbeitete dort als Angestellter in einem New Yorker Kunstverlag. In seiner Freizeit malte er die heimatliche Landschaft aus dem Gedächtnis und ließ sich auch von der neuen Umgebung, der Stadt New York und dem idyllischen Nordwesten der Vereinigten Staaten, anregen.

1946 lehnte Nägele die Professur für Grafik an der Stuttgarter Akademie ab, die ihm Theodor Heuss, der damalige Kultusminister Württemberg-Badens, angeboten hatte. 1952 besuchte er Deutschland zum ersten Mal nach dem Krieg, als ihm ehrenhalber der Professorentitel durch das Kultusministerium verliehen wurde. 1954 fand anlässlich seines 70. Geburtstages eine Retrospektive im Stuttgarter Kunstverein statt. 1963, nach dem Tod seiner Ehefrau Alice, kehrte Nägele endgültig nach Deutschland zurück. Er zog nach Murrhardt und widmete sich vornehmlich der Hinterglasmalerei. 1969 veranstalteten die Galerie der Stadt Stuttgart sowie die Staatsgalerie Stuttgart Werkschauen zu Nägele. 1971 bezog Reinhold Nägele das Altenheim Sonnenberg, wo er 1972 verstarb.

Die Staatsgalerie Stuttgart und die Galerie der Stadt Stuttgart würdigten den Künstler 1984 zum 100. Geburtstag jeweils mit einer Werkschau. Im selben Jahr erschien eine umfassende Monografie zu Leben und Werk Reinhold Nägeles, die zudem ein umfassendes Verzeichnis seiner Werke enthält. Ab den 1990er Jahren präsentierten insbesondere städtische Galerien der Region um Stuttgart, etwa die der Stadt Murrhardt, Böblingen oder Schwäbisch Gmünd, das Werk des Künstlers in mehreren Einzel- oder Gruppenausstellungen. Anfang 2018 organisierte das Kunstmuseum Stuttgart eine monografische Ausstellung, die Nägele als Chronisten der Moderne zeigte.

Obwohl sich Nägeles kleinformatige Radierungen, Hinterglas- und Temperamalereien in Stuttgart und der Umgebung nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen, hält sich bis zum heutigen Tag die überregionale Würdigung seiner Kunst in Grenzen. In der kunsthistorischen Rezeption wurde von Anfang an stets Nägeles Originalität sowie seine regionale Verwurzelung betont. Seit den 1970er Jahren wird Reinhold Nägele in der Forschung und im Ausstellungswesen im Kontext der Kunst der 1920er Jahre mit realistischen Tendenzen verortet. 2017/2018 war Reinhold Nägele beispielsweise mit zwei Werken in einer Gruppenausstellung der Schirn Kunsthalle in Frankfurt zum Thema „Glanz und Elend in der Weimarer Republik“ vertreten.

Text: Anna-Maria Drago Jekal
Schlagwort: Stuttgart-Mitte
Literaturhinweise:

Bilder aus fünf Jahrzehnten. Stimmen der Freunde, Konstanz/Stuttgart 1962.
Eva-Marina FROITZHEIM, Reinhold Nägele. 1984–1972. Werkschau, Böblingen 2005.
Helmut GÖTZ/Thomas NAEGELE, Gedächtnis-Ausstellung Reinhold Nägele. 1884–1972. Das Radierwerk, Murrhardt 1992.
Kunstmuseum Stuttgart, Reinhold Nägele. Chronist der Moderne, Stuttgart 2018.
Reinhold Nägele. Exlibris. Werkverzeichnis der Exlibris. Mit einer Einführung von Eltke Schutt-Kehm. Zusammengestellt von Thomas Nägele, Stuttgart 1989.
Brigitte REINHARDT (Hg.), Reinhold Nägele. Mit einer Einführung von Thomas F. Naegele. Werkverzeichnisse von Brigitte Reinhardt und Dieter Hannemann, Stuttgart 1984.
Württembergischer Kunstverein, Reinhold Naegele, Stuttgart 1954.

GND-Identifier: 11873783X
Publiziert am: 19.04.2018
Empfohlene Zitierweise:
Anna-Maria Drago Jekal, Reinhold Nägele (1884-1972), publiziert am 19.04.2018 in: Stadtarchiv Stuttgart,
URL: https://www.stadtlexikon-stuttgart.de/article/02da7628-8143-4a3f-ab2f-872844c1d2cf/Reinhold_Naegele_%281884-1972%29.html